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sind an kleine Stäbe sorgfältig aufgebunden; kein Pflänzchen ist
vertrocknet; keins ist eingegangen; man sieht es noch, daß sie be—
hackt und begossen sind.
„O ihr schönen Blumen!“ ruft Luise; „wer hat euch gewartet?“
— Sie sieht den Vater an und die Mutter. — Vater und Mutter
lächeln.
„Vater, du?“ fragt das Kind. Der Vater sagt: „Nein!“
„Aber du, Mutter?“ — „Auch nicht!“ antwortet sie.
Aber nicht weit von ihr steht Wilhelm, Luisens Bruder; seine
Augen glänzen vor Freude, und sein Entzücken kann er nicht ver—
bergen. Luise sieht ihn an. „O, nun weiß ich's! Lieber Gärtner!“
sagt sie und fällt dem Bruder in die Arme.
Seit diesem Tage wartete Wilhelm Luisens Blumen immer
so sorgsam, als wären's die seinen; und seit dieser Zeit gab Luise
immer die schönsten Blumen des Beetes dem Bruder.
Andreas Löhr.
102. Wein.
Es waren einmal zwei Kinder, die hieben Kordelchen und
Michelchen; Kordelchen war ein ganz Klein bißchen dumm, und
Michelchen war gerade nieht übertrieben gescheit.
Eines Tages sahen die Kinder, dab ihre Mutter Wein trank.
Da fragte Kordelchen: „Mutter, von welcher Kuh hast du den
Wein gemelkt?“ — „Du Narr!“ riek die Mutter, „der Wein
kommt nicht von der Kub, sondern vom Weinstock.“ MNMichel-
chen aber sprach: „Mutfter, ich habe heute eine halbe Stunde
unter dem Weinstock gelegen und schaute immer hinauf nach
den Beeren da oben, machte auch den Mund auf, wie ichis immer
tue, aber kein Wein ist mir in den Mund gekommen.“ — Da
seufzte die Mutter und sprach: „lIhr Dummköpfe, der Wein wird
so gemacht: erst schneidet man die Weintraube vom Stochk,
dann tritt man sie mit Fübßen, darauf läßt man den Salt stehen
und geht nach Haus, nach einem Monat aber sieht man wieder
zu, und dann ist's klarer Wein.“
Ein Monat war vergangen, da kamen die Kinder an einem
regnichten Tage mit einem Glase zur Mautter, in dem Glase aber
war schmutziges Regenwasser. „Mas habt ihr denn da?“ fragte
die Mutter. — „Wein!“ antwortete Michelchen und lachte übers
ganze Gesicht. — „Sprich nicht so dumm,“ schalt die Nutter,
wie soll denn die Schmutzbrühe da Wein sein?“ — „Ei doch!“
schmunzelte Kordelchen, „er ist nur nicht so klar als der, den
du trinkst. Weist du wobl, Mutter, vor einem Monate erzähltest