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Sowie sie aber die Kirche verlassen hat, drängen sich die Leute
um sie herum und sagen; „Gewib sind Sie fremd in Bornstedt und
wissen nicht, neben ven sie in der Kirche gesessen haben.“
„Ja, ja,“ sagte eine alte Frau, „ich bin schon achtzig Jahre alt,
aber neben dem Kronprinzen saß ieh noch nie.“
Da wurde das Mädehen sehr bewegt und sprach: „Ach, wie konnte
ich das wissen? Ieh hätt's nimmer getan, wenn ich's geahnt hätte.“
28 Kaiser Wilhelm II. und die Kaiserin Auguste Viktoria.
a) Aus dem Leben unsers Kaisers.
Hermann Koch.
1. Du denkst: „Ein König hat's bequem, der wohnt in einem prächtigen
Schlosse, sitzt auf seinem. Thron, hat die goldene mit Edelsteinen beseßte
Krone auf dem Kopfe, das Zepter in der Hand und hat weiter nichts zu
tun als zu befehlen. Und nun gar erst der Kaiser!“ Fehlgeschossen! Ein
Kaiser hat ebensowohl zu arbeiten als du und ich und wahrscheinlich
noch mehr. Und wenn mancher einmal für ein paar Wochen das Zepter
führen könnte, so würde er wahrscheinlich sagen: „Ich hatte mir's leichter
gedacht, ich will abdanken und lieber graben oder hobeln.“ Aber du
möchtest doch gern wissen, was denn eigentlich der Kaiser zu tun hat.
Laß dir's erzählen: —
2. Wenn er sich des Morgens nach dem Kaffee an seinen Arbeits—
tisch setzt, dann liegen da ganze Haufen von Briefen, Bittschriften, Be—
richten usw. Alle sieht er durch und schreibt seine Bemerkungen an den
Rand oder setzt seinen Namen unter das Schriftstück. Das erfordert sorg—
fältige Prüfung; denn eine kaiserliche Unterschrift entscheidet oft über das
Wohl und Wehe eines Menschen, ja des ganzen Volkes. Mit einem
einzigen Federstrich kann der Kaiser ein Todesurteil bestätigen oder den
Verurteilten begnadigen. Da ist die Entscheidung oft sicher sehr schwer,
und du und ich möchten die Verantwortung nicht tragen.
3. Um neun Uhr macht der Kaiser bei gutem Wetter gewöhnlich eine
Spazierfahrt nach dem Tiergarten, in der Regel mit der Kaiserin. Im
offenen Wagen, meistens in Kürassieruniform, fährt er im scharfen Tab
die schöne Straße „Unter den Linden“ entlang. Hunderte von Menschen,
größtenteils Fremde, haben sich zu beiden Seiten der Straße aufgestellt,
um den deutschen Kaiser einmal in Wirklichkeit zu sehen. Mit Hutschwenken
und Hurrarufen wird er überall begrüßt. Freundlich danken die Majestäten
nach allen Seiten. Immer wieder fährt die Hand an Helm oder Mütze,
denn immer wieder stehen neue Scharen am Wege. Im Tiergarten steigt
der Kaiser aus und macht mit seiner Gemahlin am Arm einen Spazier—
gang unter den hohen prächtigen Bäumen des Parks. Doch bald muß
er umkehren, denn im Schlosse wartet neue Arbeit auf ihn. Schnell steigt
er in den Wagen, der an der bestimmten Stelle hält, und fort geht's im
Galopp zum Schlosse zurück.