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C. Die Lahn.
Die Lahn ist so recht der Fluß des Nassauer Landes, da mehr als die Hälfte
ihres Laufes durch den Reg.-Bez. Wiesbaden führt und sie sich auch außer-
halb desselben nirgends weit von seiner Grenze entfernt. Ihre Quelle be-
findet sich auf dem unweit der Nordgrenze des Reg.-Bez. gelegenen Lahn-
Hof. Als kleines Bächlein wandert die Lahn erst ein Stückchen in nordöst-
licher Richtung, fließt dann nach O. bis Cölbe, hierauf nach S. bis Gießen,
von da nach W. bis Löhnberg, wieder nach S. bis Aumenau und dann im
allgemeinen nach W. bis zu der zwischen Ober- und Niederlahnstein
gelegenen Mündung. Zahlreiche Bäche eilen ihr von den Höhen des Hinter-
länder Berglandes, des Vogelsberges, des Westerwaldes und des Taunus
zu, so daß sie schnell zu einem ansehnlichen Flüßchen heranwächst. Ihr viel-
gewundener Lauf führt an vielen Dörfern, Gehöften und Mühlen und
13 Städten vorüber. Je mehr sich die Lahn ihrer Mündung nähert, desto
reicher wird ihr Tal an Naturschönheiten. Die hohen Uferberge treten mehr
und mehr an den Fluß heran und lassen nicht einmal überall genug Raum
für das Schienengeleise der Lahnbahn; kurze und längere Tunnel, hohe Dämme
und Brücken wechseln in schneller Aufeinanderfolge. — Die in früherer Zeit
sehr lebhafte Lahnschiffahrt hat seit Erbauung der Lahneisenbahn bedeutend
abgenommen; nur noch selten begegnen dem Wanderer die großen Lahn-
nachen, die aufwärts von Pferden gezogen werden. Ein kleines Stück der
Lahn (Limburg-Dehrn) wird im Sommer regelmäßig von einem kleinen
Personendampfer befahren.
Infolge ihrer bedeutenden Tiefe, der Steilheit der Ufer und zahlreicher
Strudel fällt der Lahn alljährlich manches Menschenleben zum Opfer. Daher
die Sage:
Die Lahn hat gerufen.
Am felsigen Hange im Lahntal dranß
klein Völklein pflückt Blumen und Beeren.
Die süßesten Beeren, der schönste Strauß
lieb Häuschen, dem kleinen, gehören.
Da plötzlich dringt aus dem Schilf hervor
ein klagendes Rufen und Locken.
Die Kinder, sie find ganz Auge und Ohr,
bleich stehen sie da und erschrocken.
Und zitternd ruft eines dem anderen zu:
„Die Lahn, die Lahn hat gerufen!"
Dann flüchten die kleinen Gesellen im Nu
steil aufwärts die felsigen Stufen.
Klein Hänschens Beine, sie wollen nicht mehr;
die andern nicht rasteten, ruhten.
„£>, haltet ein, o lauft nicht so sehr —
ich falle —", da stürzt's in die Fluten.
Starr stehen die Kinder am felsigen Rand,
scheu klettern sie nieder die Stufen.
Tot Hanschen, den Beerenstrauß fest in der Hand,
treibt abwärts. — Die Lahn hat gerufen!
Rudolf Dietz.