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ihren höchsten Punkt erreicht, und durch ein wunderbares Glück erhielt
sie stch fast zwei Jahrhunderte lang auf demselben. Dichtkunst und
Redekunst bahnten den Weg, letztere natürlich nur als geistliche Rheto¬
rik oder als Lobrednerei auftretend; bald wurde auch die Geschichte, be¬
sonders aber die Philosophie von den Franzosen mit Eifer angebaut.
Wirksam war namentlich die Moral oder Lebensphilosophie, welche bei
den Franzosen, als einer dem Reellen, Praktischen, mehr als dem
Ideellen, Theoretischen nachstrebenden Nation, weit eifriger betrieben
wurde. Epikuräische Weisheit hatte daher bei den Schülern der neuen
Philosophie dieselbe Wirkung als bei den Schülern des alten Epikurus;
sie vermehrte nur den im Menschen wohnenden Hang zum Vergnügen,
erzeugte den Wahn, daß der Geist nur ein Unding, nur ein Produkt
der Materie sey, und daß man der Materie zu Gefallen leben, d. h. so
egoistisch auf seinen eigenen Vortheil bedacht seyn müsse als möglich.
Andere deuteten auf die sichtbaren Mißverhältnisse der menschlichen Ge¬
sellschaft hin, führten auf ein ideelles ursprünglich gleiches Verhältniß
zurück, behaupteten, die Wissenschaften und Künste seyen mehr ein Un¬
heil des Menschen, als eine segensreiche Gabe; und nur in der Rück¬
kehr zu einer solchen, von aller unheilsvollen Civilisation freien Lage
könne die wahre Aufgabe der Menschheit liegen. Daß die menschlichen
Verhältnisse ganz verwirrt, verrückt und verschoben seyen, war erst kürz¬
lich nicht nur ausgesprochen, sondern in dem Kampfe der nordamerika¬
nischen Staaten um ihre Freiheit auch als eine thatsächliche Wahrheit
aufgestellt worden. Die wohlklingende Behauptung, alle Menschen seyen
von Natur frei und gleich, in begeisterter Sprache vorgetragen, mußte
allenthalben Eingang finden, und durch den ungeheuren Widerspruch
mit der Wirklichkeit um so mehr zum Nachdenken auffordern. Und im
Wahne der gänzlichen Sicherheit, ohne die mindeste Furcht vor dem
Ausbruch eines Vulkans, dessen Flammen schon das künftige Unheil an¬
deuteten, hatte der Adel und der Hof diese philosophirende, alles Beste¬
hende mit der beißenden Lauge des Hohnes und Spottes zerfressende
Dialectik, angezogen von dem Geiste darin, als einem Mittel der Un¬
terhaltung, genährt und selbst großgezogcn. Diese Philosophie, in den
sogenannten Encyclopädistcn, in Rousseau, Voltaire, Alembert, Diderot,
Helvetius, Holbach u. s. w. personificirt, ist aber nichts, das erst von
außen wäre hereingebracht worden, nichts das wie ein fremdes Ingre¬
dienz erst auf die Franzosen gewirkt hätte, sondern der eigentliche Geist
der Zeit gewesen, der nur deßwegen so allgemeinen Anklang fand, weil
er nichts aussprach, als das was Alle in sich fühlten, und was in der
schönsten, begeistertsten, witzigsten Darstellung zu vernehmen Lille er¬
freuen mußte. >
War nun also durch einen furchtbaren Bankerott der Staat be¬
droht, und war durch die Mißverhältnisse aller menschlichen Dinge der
Wunsch eines andern Zustandes hervorgerufen worden, so hätte immer-