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oder zwölf Jahre darauf ist der Müller gestorben und hat
seinem Sohn die reiche Schneidmühle und eine hübsche Schublade
voll Schuldverschreibungen hinterlassen. Kühner.
145. Der unversehrte Schuldbrief.
Wieder ein Jahr später fiel in der Schneidmühle heimlich
ein Funke von einer Laterne in einen Haufen Späne, und eine
Stunde später stand die Mühle in Brand; und wieder sechs
Stunden später war die Mühle ein Aschenhaufen und der Sohn
des reichen Müllers ein Bettler. Denn die, welchen er schuldete,
wollten bezahlt sein, und die ihm schuldig waren, wollten nicht
bezahlen; denn die Schuldbriefe waren auch mit verbranut.
Doch einer war's nicht. — Wie der arme Abgebrannte so
von Haus zu Haus ging und bei allen anklopfte, die seinem
Vater noch Geld schuldig waren, und wie keiner mehr von der
Schuld etwas wissen wollte, weil ja die Schuldscheine nicht mehr
da waren, da kam dem Müllerssohn auf einmal das gute, ehrliche
Gesicht des welschen Gastes in die Gedanken und das Versprechen,
das er einst gegeben hatte: „Es soll euch geholfen werden!“ —
Ein solches Versprechen von einem ehrlichen Manne, meinte er,
sei mehr wert als ein geschriebener Schuldbrief. Obgleich ihm
nun das Papier mit dem Namen des Fremden auch verbrannt
war und er auch in seinem Kopfe den Namen, der stark aus—
ländisch gelautet hatte, nicht mehr zusammenfinden konnte, dachte
er doch: „Ich will meinen Mann schon herausfinden in seinem
Welschland; vielleicht kann er mich in seinem Geschäft brauchen
oder mir sonst Verdienst geben.“ Also machte er sich auf und
wanderte über hundert Meilen weit, zuerst durch das Bayernland,
dann über das hohe Alpengebirge hinüber, und endlich kam er in
das blühende Land Italien und in die Stadt Venedig, die am
Meere liegt. Kühner.
146. Das venetianische Haus von Thüringer
Steinen.
Als er nun in diese große und volkreiche Stadt kam und
die herrlichen Paläste sah, die im Wasser stehen, und die Straßen,
auf denen die Kähne hin- und herfahren, da wußte unser guter