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doch die Trojaner ahnten nichts Schlimmes, denn ihr Sinn war
verblendet.
Indem erhob sich ein neues Geschrei in der Nähe. Die herum¬
streifenden Jünglinge hatten in einem nahen Gesträuch einen un-
bewaffneten Griechen entdeckt und schleppten ihn nun gefangen
herbei. Es war der listige Sinon. Mit ängstlicher Miene und
gerungenen Händen, heuchlerische Tränen vergießend, stand er da,
ein rechtes Bild des Jammers, so daß die gutmütigen Trojaner
Mitleid mit ihm empfanden und ihn fragten, was er in ihrem
Lande noch zu suchen habe. Ja, sie trösteten ihn: er solle sich
nicht fürchten, es werde ihm niemand ein Leid antun. Sinon
trocknete seine Tränen, seufzte laut auf und sprach mit weiner¬
licher Stimme: „Ach, ihr guten Leute, ich kann nicht lügen; Sinon
hat noch nie eine Unwahrheit gesagt! Vernehmet also: ich bin
ein Grieche. Gewiß habt ihr schon von dem listigen König Odysseus
gehört. Dieser Vösewicht hatte einen Haß auf mich geworfen und
trachtete schon lange danach, mich zu verderben. Endlich ver¬
abredete er zu diesem Zwecke mit dem lügnerischen Priester Kalchas
einen niederträchtigen Plan. Meine Landsleute hatten bereits
dieses hölzerne Pferd fertig und wollten eben absegeln; denn sie
waren des fruchtlosen, blutigen Streites gründlich satt; da trat
der Wahrsager mitten unter sie und verkündete mit erhobener
Stimme, es sei der Wille der Götter, daß vor der Abfahrt von
hier ein Grieche geopfert werde, so wie einst in Aulis Iphigenie
habe sterben müssen. Vor diesen Worten erschraken alle; denn
jeder fürchtete, er könne das Opfer sein. Niemand wagte es, den
Seher nach dem Namen des Todgeweihten zu fragen, bis endlich
Odysseus auf ihn zulief und ihn beschwor, nicht länger mit der
Wahrheit zurückzuhalten; und wenn er selbst das Opfer sein sollte,
so werde er sich nicht weigern, für das allgemeine Wohl sein
Leben zu lassen. So sprach der Heuchler. Kalchas aber tat,
als wolle es ihm gar nicht über die Zunge; endlich nannte er meinen
Namen. Nun waren die andern alle froh, daß sie mit heiler
Haut davonkamen, sprangen auf mich zu, banden mich mit Stricken
und übergaben mich dem heimtückischen Priester. Zum Glück war
es schon spät am Abend, deshalb verschob er das Opfer auf den
nächsten Morgen. In der Nacht aber gelang es mir, meine Bande
zu lösen und aus dem Zelte des Kalchas zu schlüpfen. Ich lief,