Full text: [Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband]] (Teil 1 = Mittelstufe, [Schülerband])

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4 Nings um das Schloß aber begann eine Dornhecke zu wachsen, 
die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und 
darüber hinaus wuchs, daß gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst 
nicht die Fahne auf dem Dache. Es ging aber die Sage in dem Lande 
von dem schönen, schlafenden Dornröschen — denn so ward die Königs- 6 
tochter genannt —, also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und 
durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es war aber alle Mühe 
vergeblich; denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, 
und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder los— 
machen und starben eines jämmerlichen Todes. Nach langen, langen 10 
Jahren kam wieder einmal ein Königssohn in das Land und hörte, 
wie ein alter Mann von der Dornhecke erzählte, es sollte ein Schloß 
dahinter stehn, in dem eine wunderschöne Königstochter, Dorn— 
röschen genaunt, schon seit hundert Jahren schliefe, und mit ihr schliefen 
der König und die Königin und der ganze Hofstaat. Er wußte auch 15 
von seinem Großvater, daß schon viele Königssöhne gekommen wären 
und versucht hätten, durch die Dornhecke zu dringen; aber sie wären 
darin hängen geblieben und eines traurigen Todes gestorben. Da sprach 
der Jüngling: „Ich fürchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne 
Dornröschen sehen.“ Der gute Alte riet ihm ab; aber er hörte nicht 20 
auf seine Worte. 
5. Nun waren gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war 
gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte. Als der Königs— 
sohn sich der Hecke näherte, waren es lauter große, schöne Blumen, die 
taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch, 25 
und hinter ihm taten sie sich wieder als eine Hecke zusammen. Im 
Schloßhof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen; 
auf dem Dache saßen die Tauben und hatten das Köpfchen unter die 
Flügel gesteckt. Als er in das Haus kam, schliefen die Fliegen an der 
Wand; der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den 80 
Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwarzen Huhne; das sollte 
gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen 
Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lag der König 
und die Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so still, daß 
einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turme und 85 
öffnete die Tür zu der kleinen Stube, in der Dornröschen schlief. 
Da lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden konnte, 
und er konnte es auch nicht lassen, bückte sich und gab ihm einen Kuß. 
Kaum hatte er es mit dem Kusse berührt, so schlug Dornröschen die 
Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie 10 
zusammen hinab, und der König erwachte und die Königin und der 
ganze Hofstaat und sahen einander mit großen Augen an. Und die 
Pferde im Hofe standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen 
Gabrielhu. Supprian, Lesebuch. B. L.
	        
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