Full text: Lesebuch für die Mittelklassen katholischer Volksschulen

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nur mildern konnte, so sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein, son— 
dern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in den die Königstochter 
fllt 
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern be— 
wahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im 
ganzen Königreiche sollten verbrannt werden. An dem Mädchen 
aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt; denn 
es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, daß jedermann 
es lieb haben mußte, der es ansah. Nun geschah es, daß an dem 
Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt ward, der König und die 
Königin nicht zu Hause waren und das Mädchen ganz allein im 
Schlosse zurückblieb. Da ging es allerorten umher, besah Stuben 
und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen 
alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf und gelangte 
zu einer kleinen Tür. In dem Schlosse steckte ein verrosteter 
Schlüssel, und als es ihn umdrehte, sprang die Tür auf. Da saß 
in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und 
spann emsig ihren Flachs. „Guten Tag, du altes Mütterchen!“ sprach 
die Königstochter; „was machst du da?“ „Ich spinne,“ sagte die 
Alte und nickte mit dem Kopfe. „Was ist das für ein Ding, das 
so lustig herumspringt?“ sprach das Mädchen, nahm die Spindel 
und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel an— 
gerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich 
damit in den Finger. 
In dem Augenblicke aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie 
auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlafe, 
und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß. Der König 
und die Königin, die eben heimgekommen und in den Saal getreten 
waren, fingen an einzuschlafen und der ganze Hofstaat mit ihnen. 
Da schliefen auch die Pferde im Stalle, die Hunde im Hofe, die 
Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand; ja, das Feuer, 
das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der 
Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, 
well er etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ 
ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen 
vor dem Schlosse regte sich kein Blättchen mehr. 
Rings um das Schloß aber begann eine Dornhecke zu wach— 
sen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß 
umzog und darüber hinauswuchs, daß gar nichts mehr davon zu 
sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dache. Es ging aber 
die Sage in dem Lande von dem schönen schlafenden Dorn— 
röschen — denn so ward die Königstochter genannt — also daß
	        
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