— 111 —
nur mildern konnte, so sagte sie: „Es soll aber kein Tod sein, son—
dern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in den die Königstochter
fllt
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern be—
wahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im
ganzen Königreiche sollten verbrannt werden. An dem Mädchen
aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt; denn
es war so schön, sittsam, freundlich und verständig, daß jedermann
es lieb haben mußte, der es ansah. Nun geschah es, daß an dem
Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt ward, der König und die
Königin nicht zu Hause waren und das Mädchen ganz allein im
Schlosse zurückblieb. Da ging es allerorten umher, besah Stuben
und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen
alten Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf und gelangte
zu einer kleinen Tür. In dem Schlosse steckte ein verrosteter
Schlüssel, und als es ihn umdrehte, sprang die Tür auf. Da saß
in einem kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und
spann emsig ihren Flachs. „Guten Tag, du altes Mütterchen!“ sprach
die Königstochter; „was machst du da?“ „Ich spinne,“ sagte die
Alte und nickte mit dem Kopfe. „Was ist das für ein Ding, das
so lustig herumspringt?“ sprach das Mädchen, nahm die Spindel
und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel an—
gerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich
damit in den Finger.
In dem Augenblicke aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie
auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlafe,
und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß. Der König
und die Königin, die eben heimgekommen und in den Saal getreten
waren, fingen an einzuschlafen und der ganze Hofstaat mit ihnen.
Da schliefen auch die Pferde im Stalle, die Hunde im Hofe, die
Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand; ja, das Feuer,
das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der
Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen,
well er etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ
ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen
vor dem Schlosse regte sich kein Blättchen mehr.
Rings um das Schloß aber begann eine Dornhecke zu wach—
sen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß
umzog und darüber hinauswuchs, daß gar nichts mehr davon zu
sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dache. Es ging aber
die Sage in dem Lande von dem schönen schlafenden Dorn—
röschen — denn so ward die Königstochter genannt — also daß