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204. Wittekinds Taufe.
Nach der letzten verlorenen Schlacht sprach der tapfere Wittekind
zu seinem Waffenbruder Albion: „Auf, laß uns gehen! Wir wollen
Karl in seiner Burg besuchen und seine Macht sehen; denn er ist der
Höchste in seinem Lande!“ Da zogen die kühnen Helden hin. Ein
Bettlergewand verhüllte ihre starken Glieder. Sie wollten unerkannt
sein und selber sehen und prüfen. Furcht war nicht in ihren mutigen
Herzen. Sie wanderten und wanderten manchen Tag, und wo sie hin—
kamen, die Christen speisten sie. Da fragten sie einander: „Sind das
die Christen?“ Sie verirrten sich manchmal in den Städten, in den
Dörfern und Feldern. Die Christen wiesen sie zurecht, und sie fragten
erstaunt: „Sind das die Christen?“ Endlich kamen sie in Ingelheim
an. Sie gingen durch die Stadt, sie bewunderten die schönen Häuser
und prächtigen Straßen. Da kamen sie an ein großes Haus, das größte
von allen, die sie gesehen hatten. „Das muß Karls Wohnung sein,“
sprachen sie; „er ist ja der Größte in seinem Volke.“ Sie gingen hin⸗
ein; sie hörten Gesang, als käme er vom Himmel her. Sie gingen
weiter. Da stand oben auf dem Chor ein Mann in weißem Kleide, es
war ein Priesler in weißem Kirchengewande. Da staunten die beiden
Helden; aber sie sollten noch mehr staunen. Siehe, es schreitet ein hoher
Mann daher mitten durch die Kirche auf den Altar zu, wo der Priester
stand, eine Krone auf seinem Haupte. Es war König Karl. Die
Helden kannten ihn und kannten ihn doch wieder nicht. War das der
starke Held, dessen blitzendes Schwert im Kampfe traf und tötete? War
das der Mann, dessen Auge funkelte vom Zorne der Schlacht? Hier
trägt er kein Schwert, sein Auge leuchtet in Frieden. Als er vor dem
Altar steht, nimmt er demütig seine Krone ab und legt sie auf den
Boden. Dann beugt er auf den Stufen des Altars seine Kniee und
betet zu Jesu Christo, dem Christengotte, und alles Volk fällt auf die
Kniee und betet, und die himmlische Musik des Lobgesanges ertönt von
neuem: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den
Menschen ein Wohlgefallen!“ Da steht Karl auf und setzt sich auf einen
Stuhl, und der Mann im weißen Kleide predigt von Jesu, der ge—
kommen ist, die Sünder selig zu machen, und Karl beugt sein hohes
Haupt, so oft Jesu Name genannt wird. Da segnet der Priester die
Gemeine; der Gottesdienst ist aus.
Es war nicht Karls Haus, in dem sie gewesen; es war Gottes
Haus, in dem Karl gebetet hatte. Gott ist größer als Karl; darum
mußte auch Gottes Haus das größte sein in der Stadt. Die Waffen⸗
brüder gingen aus der Kirche. Vor der Kirchtür stand ein großer Haufe