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Schlosse, und als man die Königstochter aufwecken wollte, war auch
sie verschwunden. Ohne sich lange zu besinnen, bestieg der Bräutigam
das erste beste Pferd und jagte über Stock und Block. Ein großer
Spürhund witterte den Weg, den die Verliebten genommen hatten;
nahe am Harzwalde holte der Riese sie ein. Da hatte aber auch die
Jungfrau den Verfolger erblickt, wandte den Rappen flugs und sprengte
waldein, bis der Abgrund, in dem die Bode fließt, ihren Weg durch⸗
schnitt. Angstvoll blickte Emma in die Tiefe, denn mehr als tausend
Fuß ging senkrecht die Felsenmauer hinab. Tief unten rauschte der
Strom und kreiste in furchtbaren Wirbeln. Der entgegenstehende Fels
schien noch entfernter und kaum Raum zu haben für einen Vorderfuß
des Rosses. Der Rappe stutzt einen Augenblick, da stößt sie ihm mutig
die ellenlangen Sporen in die Seite. Und das Roß sprang über den
Abgrund glücklich auf die spitze Klippe und schlug seinen Huf vier Fuß
tief in das harte Gestein, daß die Funken stoben. — Das ist die Roß⸗
trappe. Die Zeit hat die Vertiefung kleiner gemacht, aber kein Regen
kann sie ganz verwischen. — Emma war gerettet, aber die zentner—
schwere Königskrone fiel während des Sprunges von ihrem Haupte in
die Tiefe. Bodo, in blinder Hitze nachsetzend, stürzte wegen seiner
Schwere in den Strudel und gab dem Flusse den Namen. Im Kessel
der Bode liegt die Krone noch heutzutage, von einem großen Hunde
mit glühenden Augen bewacht. Schwimmer, die der Gewinn geblendet
hatte, haben sie mit eigner Lebensgefahr aus der Tiefe zu holen ge—
sucht, aber bei der Rückkehr ausgesagt, daß es vergebens sei; der große
Hund sinke immer tiefer, sobald sie ihm nahe kämen, und die goldene
Krone sei nicht mehr zu erlangen. Bruder Grimm.
109. Der Rabe zu Merseburg.
Auf dem Schloßhofe zu Merseburg steht ein mächtig großes
Vogelhaus; darin wird zufolge alter Stiftung ein Rabe unterhalten,
zu dessen Fütterung in der Rentamtsrechnung ein Gewisses an Gerste
verschrieben wird. Diese Stiftung hat folgende Veranlassung.
Dem Bischof von Merseburg, Thilo von Trotha, war ein kost—
barer Ring, den er sehr wert hielt, abhanden gekommen. Der Ver—
dacht der Entwendung lenkte sich sogleich auf einen seiner Diener;
alle Umstände schienen ihn schuldig zu sprechen; kein anderer Mensch
konnte der Täter sein. Der Beschuldigte leugnete zwar anfangs die
Tat hartnäckig, aber die Folter brachte ihn zum Geständnis, worauf
der Bischof sofort seine Hinrichtung befahl. Einige Zeit darauf sollte
an einem der Schloßturme das Dach ausgebessert werden; da fanden