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2. In Dorf und Stadt.
33. Guter Rat.
Willst du getrost durchs Leben gehn: blick über dich!
Willst du nicht fremd im Leben stehn: blick um dich!
Willst du dich selbst in deinem Werte sehn: blick in dich!
Johann Kaspar Lavater.
34. Fürs Herzhluten.
Ich saß in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse. Ratteratt,
ratteratt, ratteratt! Mir gegenüber saß ein stiller, oft tieftraurig vor
sich hinblickender Mann, innig an ihn geschmiegt ein etwa vier Jahre
altes, liebliches Mägdlein mit großen, dunkeln Augen, aber blassem,
schmerzhaftem Antlitʒ. Der Mann war, wie der Augenschein lehrte,
des kranken Kindes Vater. Er hielt seinen rechten Arm um die Kleine
geschlungen und drückte das von braunem Haar umflossene Köpschen
von Zeit zu Zeit fest an sich, und wenn er ihr etwas sagte, so nannte
er sie Marie.
In Northeim wurde unsre stille Gesellschaft noch durch drei Per—
sonen vermehrt, zwei junge Wildlinge und deren Vater.
Frisch und fröhlich sprang der blondhaarige Knabe mit seinem
Schwesterchen herein, und ebenso munter kam der Vater ihnen nach.
Das war ein Lachen, Fragen und Schwatzen ohne Anfang und ohne
Ende. Doch vergaßen sie nicht, uns freundlich zu grüßen.
Wie aus dem Geplauder unserer neuen Reisegenossen hervorging,
fuhren sie zum fernen Mütterchen zurück, das mit großer Sehnsucht
ihrer harrte. Die beiden Kinder freuten sich so sehr auf das bevor—
stehende Wiedersehen, daß sie fast aus dem Häuschen gerieten. Wohl
zwanzigmal fragten sie wie aus einem Munde: „Vater, wieviel
Stationen sind's noch bis zum Mütterchen?“ Und der Vater wurde
nicht müde, die Fragen seiner Lieblinge immer wieder und wieder zu
beantworten.
Plötzlich verstummte die kindliche Redseligkeit, und das ferne
Mütterchen schien für einen Augenblick vergessen. Der Vater hatte
nämlich drei Apfelsinen hervorgeholt und begann nun lächelnd, mit
einem Taschenmesser die duftende Schale von dem saftstrotzenden Balle
zu lösen. Begierig nahmen die Kleinen ein Stück nach dem andern
aus der Hand des Vaters und genossen die köstliche Frucht mit wonne