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zusehen, ob sich nicht irgendwo ein kleines Kind verlaufen hat. Dann
bringt er es wieder zu seiner Mutter. Als er auf die grüne Wiese
kam und Goldtöchterchen hier liegen und schlafen sah, hob er es behut—
sam auf, ohne es zu wecken. Er flog mit ihm über die Stadt und
sah nach, in welchem Hause noch Licht war. „Das wird wohl das 5
Haus sein, wo es hingehört,“ sagte er, als er das Haus von Gold—
töchterchens Eltern sah; denn das Licht im Wohnzimmer brannte immer
noch. Heimlich sah er zum Fenster hinein. Da saßen Vater und
Mutter an dem kleinen Tische einander gegenüber und weinten. Der
Engel öffnet ganz leise die Haustür, legt das Kind auf eine Decke im 10
Winkel des Flures und fliegt fort.
Endlich erwacht Goldtöchterchen, und da es ganz finster ist, fängt
es heftig an zu weinen. Da öffnet die Mutter die Stubentür und
sieht Goldtöchterchen vor sich stehen. Freudestrahlend nimmt sie es auf
ihre Arme und eilt zum Vater. 15
Goldtöchterchen erzählte nun, was ihm alles begegnet war; aber
wie es wieder ins Haus gekommen, das wußte es nicht. Die Eltern
aber waren froh und dankten Gott, daß sie ihr Goldtöchterchen wieder
hatten. Richard von Volkmann-Leander. Träumereien an französischen Kaminen.)
218. Knecht Ruprecht.
Von drauß vom Walde komm ich her.
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
sah ich goldne Lichtlein sitzen,
und droben aus dem Himmelstor
sah mit groben Augen das Christkind hervor.
Und wie ich so strolcht' durch den finstern Tann,
da rief's mich mit heller Stimme an:
„Knecht Ruprecht,“ rief es, „alter Gesell,
hebe die Beine und spute dich schnell!
Die Kerzen fangen zu brennen an,
das Himmelstor ist aufgetan.
Alt' und Junge sollen nun
von der Jagd des Lebens einmal ruhn,
und morgen fleg ich hinab zur Erden,
denn es soll wieder Weihnachten werden!“
Ich sprach: „O lieber Herre Christ,
meine Reise fast zu Ende ist.
Ich soll nur noch in diese Stadt,
wo 's eitel gute Rinder hat.“
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