— 122 —
Kurze Zeit darauf läuft das nämliche Mäuschen durch den Wald und sucht
sich Nüsse. Da hört es das klägliche Geheul eines Löwen. Der ist in Gefahr,
dachte es bei sich selbst und lief der Stelle zu, wo das Gebrüll hertönte.
Es fand den großmütigen Löwen umschlungen von einem Netze starker
z Stricke. Der Jäger hatte es ausgespannt, um damit große Waldtiere zu
fangen. Die Stricke hatten sich sehr künstlich zusammengezogen. Nun konnte
der Löwe weder die Zähne noch die Stärke seiner Tatzen gebrauchen, um
das Netz zu zerreißen.
„Warte, mein Freund,“ sagte das Mäuschen, „ich werde dich bald befreit
10 haben.“ Es lief hinzu und zernagte die Stricke, welche seine Vordertatzen
gefesselt hatten. Als diese frei waren, zerriß er das übrige Netz mit Leich—
tigkeit. So wurde der Löwe durch die Hilfe des Mäuschens wieder frei.
189. Walther von Thurn.
GStern.)
15 Der tapfere französische Ritter Walther von Thurn ritt in einer öden
syrischen Wüste. Da hörte er von ferne ein langes, klägliches Gestöhne. Ge—
wiß, dachte er, haben verruchte arabische Räuber einen Wanderer angefallen.
Er sprengt hin auf seinem Streitrosse; aber als dieses vor der finstern, engen
Kluft stand, stutzte und zitterte es, bäumte sich und schäumte ins Gebiß. Die
20 funkelnden Augen eines großen, männlichen Löwen blickten ihm entgegen.
Dieser lag im Kampfe mit einer ungeheuren Schlange, welche sich schon um
Leib und Schweif des Löwen gewunden hatte. Ohne ch zu besinnen, schwang
Walther sein mächtiges, scharfes Schwert, und mit einem tüchtigen glücklichen
Streiche spaltete er der Schlange den Leib. Als der Löwe sich von der
25 furchtbaren, wütenden Feindin erlöst sah, erhub er sich, brüllte ldul, schüttelte
die Mähne, streckte den Leib und nahte sich dann seinem Retter. Sanst
schmeichelnd kroch er zu dem jungen unerschrockenen Helden und leckte ihm Schild
und Hand. Von nun an verließ er ihn nicht mehr, sondern folgte ihm, wie
ein Hund, auf dem Marsche über Flüsse und in den Streit.
30 Mehrere Jahre lang war der Ritter im heiligen Lande gewesen und
hatte viele tapfere Thaten verrichtet und einen berühmtken, geachteten Namen
sich erworben. Endlich empfand er Sehnsucht nach dem fernen, teuren Vater—
lande, wollte dahin zurückkehren und den guten, treuen Löwen mitnehmen.
Aber kein Schiffer wollte das Tier in sein Schiff aufnehmen, obgleich Walther
35 doppelten, ja vierfachen Lohn bot. Endlich ließ der Ritter ihn zurück und
fuhr allein ab. Da erhub der Löwe ein langes, klagendes Gebrüll, lief
ängstlich am Strande auf und ab, stund dann am Ufer stille, schaute dem
Schiffe nach und stürzte sich endlich ins Meer.
Man sah ihn vom Schiffe aus und beschloß, das edle Tier aufzunehmen.
40 Schon war er dem Schiffe nahe, da verließ ihn die Kraft, er blickte noch
einmal mit treuen, hellen Augen nach dem Ritter und versank.
190. Der Löwe.
Schmid.)
Ein armer Sklave, der seinem Herrn entlaufen war, wurde zum Tode
45 verurteilt. Man brachte ihn auf einen großen, weiten Platz, der mit Mauern