Full text: [Theil 1, [Schülerband]] (Theil 1, [Schülerband])

55. Der junge Falk. 
Vranz Uosftmann. 
Mãärehen und Fabeln für kleine Kinder. 4. Aufl. Stuttg. 1861. 8. 271. (1. Aufl. Stuttg. 1842.) 
„Vater!“ sagte der junge Falk eines Morgens zu dem alten, 
der sich zu einem Ausfluge rüstete, „Vater, laß mich mit dir ziehen! 
Meine Schwingen sind gewachsen, meine Fänge fast so stark als die 
deinigen; es ist Zeit, daß ich selbst für mich sorge“ 
Der alte Falk schüttelte zwar bedenklich sein Haupt, doch sprach 
er: „Du sollst deinen Willen haben! Hüte dich aber, ungehorsam 
zu sein, und folge allen meinen Rathschlägen, sonst möchtest du leicht 
in dein Verderben rennen. Der Menschen List und Bosheit verfolgt 
uns Orten, und nur gereifte Erfahrung lehrt uns, ihren Schlingen 
zu entgehn.“ 
Der Sohn versprach Gehorsam, und schnellen Fluges entschwebten 
die Falken dem Neste. Sie flogen rasch dahin über die Iber 
acEieh das Rephuhn, Vater,“ rief der junge Falk, „laß es 
mich jagen, es wird eine leichte Beute ein.“ Das Rephuhn erblicke 
ich wie du,“ erwiederte der alte. „Aber dort schaue hin, mein Sohn, 
in jenes Gebüsch! Dort lauert der Jäger mit dem sicher treffenden 
Feuerrohr. Er würde dich tödten, ehe du das Rephuhn ergreifen 
könntest. Laß uns fliehen!“ 
Der junge Falk erschraf, als er die Gefahr so nahe und 
drohend erblickte, und durchschnitt in Eile die Luft. Die Falken 
flogen weiter. 
„Dort jene weiße Taube, Vater,“ rief nach einem Weilchen 
der junge Falk, „kann mir nicht entgehn. Laß sie mich ergreifen! 
Kein Jäger ist zu erblicken nah und fern“ 
„Siehst du nicht,“ sprach der bedächtige Alte, „daß die Taube 
in einem Käfige sitzt? Fliege hinein, und Netze werden über dir 
zusammenschlagen und dich gefangen festhalten.“ 
Der junge Falk glaubte den Worten seines Vaters nicht und 
zeigte große Lust, ungehorsam zu sein. Da stieß plötzlich ein 
Habicht aus der Luft auf die Taube los, verschwand im Käfige, 
Netze schlugen zu, und der Habicht saß gefangen. Die Falken 
entwichen. — Wieder nach einer Weile rief der junge: „Vater, dort 
sitzt ein Uhu, der Erbfeind unseres Geschlechts. Erst kürzlich hat er 
meinen Bruder zerrissen; laß mich ihn rächen!“ 
Halt ein!⸗ Prach der alte. „Neben dem Uhu steht eine 
Hütte, sie verbirgt einen Jägersmann. Komm schnell von hinnen!“ 
Der junge Falk sah die Hütte, aber den Jäger erblickte er nicht, 
so a er auch ausschaute. Die Begier, seinen Feind zu erwürgen, 
verblendete ihn so sehr, daß er des Väters Warnungen verhöhnte und 
blind gegen den Uhü ausflog und mit dem scharfen Schnabel nach 
ihm Ein Schuß donnerte, getroffen sank der junge Falt 
zur Erde. 
„O, wäre ich dir gehorsam gewesen!“ rief er noch seinem Vater 
zu und starb. 
Der alte Falk kehrte traurig in sein Nest zurück. 
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