Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

E. Curtius, Die Hellenen und das Volk Israel. 
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eine Schwäche, ein wesentliches Unvermögen? Das kann ich nicht glauben, 
so gern man auch die Sache umkehrt, so häufig es auch vorkommen 
mag, daß, um in einem Gleichnis zu reden, ein Adler, dem die Schwung¬ 
feder erlahmt ist, seine Genossen zu überreden sucht, daß es das allein 
Vernünftige sei, Schritt für Schritt auf festem Boden einherzugehen, 
anstatt mit keckem Selbstvertrauen in die Höhe zu fliegen. 
Die Wahrheit ist ihrer Natur nach einfach und bezeugt sich als 
solche dem aufrichtig suchenden, nach innerer Einheit verlangenden 
Menschengeiste. Wenn sie nur durch grübelnde Vernunft zu gewinnen 
wäre, wenn sie methodisch erforscht ihrem Wesen nach sich änderte oder 
durch etwas anderes ersetzt werden müßte, so würde sich in betreff der 
höchsten Lebensfragen innerhalb der Volksgemeinschaft eine Kluft öffnen, 
welche die Einheit derselben aufhebt; damit würde aber auch die Gesundheit 
des Volkes erschüttert und seine Kraft untergraben. Denn, wie das 
Beispiel der Hellenen zeigt, so glänzend auch die einzelnen Leistungen 
sein mögen, der Verfall einer Nation ist unvermeidlich, wenn die 
Denkenden vom Ganzen sich ablösen, wenn die Lebenskräfte auseinander 
gehen, welche in organischem Zusammenhang miteinander zu wirken, 
sich gegenseitig zu stärken und zu ergänzen bestimmt sind. Damit wird 
aber unsere gesamte Bildung gefährdet; denn wir können uns keine 
Wissenschaft und keine wahre Kunst denken, welche nicht von einem ge¬ 
sunden Volkstume getragen würde. 
Wollen wir also mit dem Ernst machen, was, wie wir im Anfang 
sahen, den stetigen Fortschritt menschlicher Bildung bedingt, so müssen 
wir den Gegensatz in uns überwinden, in welchem die beiden Völker 
des Altertums, die am tiefsten in unsere heutige Kultur eingreifen, zuein¬ 
ander stehen, wir müssen die nach allen Seiten methodisch ausschreitende, 
alle Gebiete der Natur und der Geschichte rastlos durchmessende For¬ 
schung der Hellenen mit der Sammlung und Vertiefung des Gemütes 
und seiner entschlossenen Hingabe an eine im Mittelpunkt ruhende Wahr¬ 
heit zu verbinden suchen, wodurch das andere der beiden Völker, das 
Volk der Religion, berufen war, die ihm anvertraute Idee wie ein Heilig¬ 
tum durch das wilde Gedränge der alten Völkergeschichte still hindurch¬ 
zutragen und dadurch den Grund zu schaffen, auf welchem die ganze 
moderne Kultur ruht. 
Je mehr es uns gelingt, diesen Gegensatz in eine höhere Einheit 
aufzulösen, um so mehr werden auch zwischen den verschiedenen Zweigen 
der Wissenschaft die das gegenseitige Verständnis störenden Gegensätze 
schwinden, um so voller und kräftiger kann sich der Zusammenhang 
zwischen den verschiedenen Ständen und Berufsarten unserer bürgerlichen 
Gemeinschaft gestalten. Keine Kluft trennt die Gelehrten von den Un- 
gelehrten, und keine Kathederweisheit soll uns hindern, die Pulsschläge 
des unmittelbaren Lebens so warm in uns zu empfinden, wie jeder echte
	        
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