Full text: Lesebuch für das zweite Schuljahr

— 2—— 
63. Das Katentrögelein. 
Es war einmal ein steinalter Mann; dem waren die Augen trübe 
geworden, die Ohren taub, und die Kniee zitterten ihm. Wenn er nun 
bei Tische saß, und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe 
auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Munde. 
Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte 
sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in eine Ecke setzen, und 
sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen, und noch dazu 
nicht einmal satt. Da sah er betrübt nach dem Tische, und die Augen 
wurden ihm naß. 
Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das Schüsselchen nicht 
fest halten; es fiel zur Erde, und zerbrach. Die junge Frau schalt; 
er aber sagte nichts, und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes 
Schüsselchen für ein paar Heller; daraus mußte er essen. — 
Wie sie nun einmal so dasitzen, so trägt der kleine Enkel von vier 
Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?“ 
fragte die Mutter. „Ich mache ein Tröglein“, antwortete das Kind, 
„daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ — Da 
sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, 
holten alsofort den alten Großvater an den Tisch, und ließen ihn von 
un an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig ver— 
schüttete. 
64. Goltesspeise. 
Es waren einmal zwei Schwestern, die eine hatte keine Kinder und 
war reich, die andere hatte fünf Kinder und war eine Wittwe, und 
war so arm, daß fie nicht mehr Brot genug hatte, sich und ihre Kinder 
zu sättigen. 
Da ging sie in der Noth zu ihrer Schwester, und sprach: „Meine 
Kinder leiden mit mir den größlen Hunger; du bist reich, gieb mir doch 
ein Bischen Brot!“ Die Steinreiche aber war auch steinhart, und sprach: 
„Ich habe selbst nichts in meinem Hause“, und wies die Arme mit 
bösen Worten fort. 
Nach einiger Zeit kam der Mann der reichen Schwester heim, und 
wollte sich ein Stück Brot schneiden. Als er aber den ersten Schnitt 
in den Laib that, floß das rothe Blut heraus. Als die Frau das sahe, 
erschrak sie, und erzählte ihm, was geschehen war. 
Er eilte hin, und wollte helfen. Als er aber in die Stube der 
Witlwe trat, so fand er sie betend; die beiden jüngsten Kinder hatte sie 
auf den Armen, die drei ältesten lagen da, und waren gestorben. Er 
bot ihr Speise an, aber sie antwortete: „Nach irdischer Speise verlangen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.