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glocke. Ein Eilbote. Ein Eilbrief. Man reißt ihn mit zitternden Händen
auf. So oft schon hat man bebend in den letzten Tagen Telegramme erbrochen,
Briefe entfaltet. Aber diesmal ist's, als schlüge aus dem schlichten weißen
Bogen eine goldene Fülle des Lichts in die dunkle Septembernacht. Da
schreibt ein unbekannter Offizier, ein Vater dem andern: „Aus schwerster
Sorge möchte ich Sie reißen. Ihr Sohn, mit dem meinen auf dem gleichen
Schiff, am gleichen Geschütz, meldete in Feindesland den Tod des meinen,
der an seiner Seite fiel. Mag er gesund Ihnen wiederkehren! Mag Gott
unserm Vaterlande Sieg verleihen!“ Christ Kyrie ...
Ein Auto rast durch die nächtlichen Straßen. Den erlösenden Brief,
den Brief dieses Adligen in der Hand, der im bittersten Schmerz nur an
den andern in der gleichen Sorge dachte, so fahren die Eltern zu den Ver—
wandten, um ihnen, noch ehe der neue Tag dämmert, die selige Kunde zu
bringen: Nicht vermißt mehr, gerettet, gerettet! — Schlaf sollte sie schenken,
und tut doch niemand ein Auge zu die ganze Nacht ... Nun häufen sich die
guten Nachrichten. Die Konsulate melden: In Sicherheit. Ist nicht ein
Tag jetzt, und wenn zehnmal Sturmwolken ihn verfinstern, strahlender wie
der andre? Die Eltern dürfen ihm in die Gefangenschaft schreiben, dürfen
ihm schicken. Und endlich kommt der Morgen, der den ersten Brief, mit
Bleistift geschrieben, von ihm selber bringt: Nur ein Lebenszeichen. Herz⸗
liche Grüße. — Was tut's, daß am selben Tage noch einmal das furchtbare
Wort neben seinem Namen auftaucht, in der Verlustliste der Zeitungen:
Vermißt. Die Eltern wissen es anders. Die jubeln: Gerettet! — Christ
Kyrie, du hast geholfen auf der Seel
Gertraud Enderlein in ,Krieg und Sieg“, Dresden 1915
56. Das Tiebeswerk der Tandesmutter.
Wie der Krieg vieles von Grund auf verändert hat, so zeigt er uns
auch zahlreiche Menschen in einem neuen, veränderten Lichte. Auch unsere
Kaiserin ist aus ihrer weisen Zurückhaltung hervorgetreten. Sie fühlte, daß
die Stunde gekommen sei, da sie ganz „Landesmutter“ sein, da sie Seite an
Seite mit ihrem Volke die großen und schweren Tage durchleben müsse. Nun
sieht man die Kaiserin täglich, und wer ihr zu begegnen wünscht, der hat nur
nötig, sich eine Zeitlang an einem der großen Lazarette zu postieren, in
denen die Verwundeten untergebracht sind. Es vergeht kein Tag, an dem
die Kaiserin nicht „ihren“ Verwundeten einen Besuch abstattet. Und — wie
man immer hört — besitzt sie die schöne Gabe, den verwundeten Kriegern mit
ihrem Vesuch wirklich Freude ins Haus zu bringen. Sie versteht es vorzüg—
lich, in ihrer Unterhaltung sich dem Denken und Fühlen der Krieger aus den
einfachen Volkskreisen anzupassen und ihnen Trost und Linderung zu bringen.
Daß es bei dem unerschöpflichen Humor unserer Soldaten ohne spaßige Ueber—
raschungen für die hohe Frau nicht abgeht, zeigt folgender Vorfall:
Lag da vor wenigen Tagen in einem Lazarett ein biederer Bayer, den
die Feinde gar arg zerhauen hatten. Als ihm die Kaiserin hierüber ihr
warmes Mitgefühl ausdrücken wollte, ging dem Braven das Herz auf, und