Neue Zeit. Zweites Blütenalter Deutscher Dichtung.
„Die schwache Frauun Du gehst davon!“ —
Sie trägt die Mutter durchs Wasser schon.
„Zum Bühle da rettet euch! harret derweil;
Gleich kehr' ich zurück, uns allen ist Heil,
Zum Bühl ist's noch trocken und wenige Schritt;
Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!“
Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.
Sie setzt die Mutter auf sichres Land,
Schön Suschen gleich wieder zur Flut gewandt
„Wohin? Wohin? Die Breite schwoll;
Des Wassers ist hüben und drüben voll.
Verwegen ins Tiefe willst du hinein!“ —
„Sie sollen und müssen gerettet sein!“ —
Der Damm verschwindet, die Welle braust,
Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.
Schön Suschen schreitet gewohnten Steg.
Umströmt auch gleitet sie nicht vom Weg.
Erreicht den Buͤhl und die Nachbarin;
Doch der und den Kindern kein Gewinn!
Der Damm verschwand, ein Meer erbraust's,
Den kleinen Hügel im Kreis umsaust's.
Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;
Das Horn der Ziege faßt das ein,
So sollten sie alle drei verloren sein!
Schön Suschen steht noch strack und gut:
Wer rettet das junge, das edelste Blut!
Schön Suschen steht noch wie ein Stern!
Doch alle Werber sind alle fern.
Rings um sie her ist Wasserbahn,
Kein Schifflein schwimmet zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,
Da nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf.
Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort
Bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort,
Bedeckt ist alles mit Wasserschwall;
Doch Suschens Bild schwebt überall. —
Das Wasser sinkt, das Land erscheint,
Und überall wird schön Suschen beweint
Und dem sei, wer's nicht singt und sagt,
Im Leben und Tod nicht nachgefragt!
Joh. Wolfgang v. Goethe
86. Adler und Taube
Gin Adlersjüngling hob die Flügel Er stürzt hinab in einen Myrtenhain,
Nach Raub aus; Fraß seinen Schmerz drei Tage lang,
Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt Ünd zuckt an Qual
Der rechten Schwinge Sennkraft ab. Drei lange, lange Nächte lang;