V
M 6 6
vorwort.
e — ———
„Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
von dem goldnen Überfluß der Welt!“
Gottfried Keller.
Vom goldnen Üüberfluß blinkt es auch auf dem Felde
der neuern deutschen Cyrik; aber seit ungefähr einem
Menschenalter ist mit wenigen Ausnahmen in unsern
gangbaren Lesebüchern der poetische Besitzstand derselbe
geblieben. Nur die Flut der Kriegspoesie von 1870
spülte eine neue Welle in sie hinein. Sonst sind nach
wie vor Autoren wie Gleim, Gellert, Lichtwer, Enslin,
Dieffenbach, Hey und viele andre in einer Weise darin
vertreten, die durchaus in keinem Verhältnis zu ihrer
dichterischen Bedeutung steht. Es erben sich nicht nur
Gesetz' und Rechte, sondern auch Gedichte, sogenannte
Gedichte, wie eine ewige Krankheit fort. Ein Lesebuch
macht's dem andern nach. Wo man aber auch neuere
Dichter berücksichtigen will, da wird zumeist mit sicherm,
aber schlechtem Griff ein Sturm statt eines Storm, eine
Ambrosius statt einer Annette von Droste-Hülshoff ge⸗
wählt.*)
Und doch ist es das Lesebuch, aus dem der bei
weitem größte Teil unsers Volkes seine poetische Nahrung
*) Es ist kaum glaublich: ein im vorigen Jahre erschie⸗
nenes Buch eines Mädchenschuldirektors, das sich „Einführung
in die neuere Cyrik und Epik“ betitelt, enthält auch nicht ein
einziges Gedicht von Mörike, Hebbel, Storm, Klaus Groth,
Keller, C. F. Meyer, Liliencron; aber Baumbach, Carmen
Sylva und Johanna Ambrosius sind vertreten.