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kleider an und suchten Mitleid bei der Bürgerschaft zu er-
regen: aber heimlich sollen sie Meuchelmörder gedungen haben,
um dem Tiberius das Leben zu nehmen. Dieser trug nun
einen Dolch bei sich, sprach vor dem Volke von seiner Ge-
fahr und ging nicht ohne Begleitung aus dem Hause. Oft
war eine Schar von 3—4000 Menschen um ihn.
In der nächsten Volksversammlung befahl Tiberius von
neuem die Verlesung seines Vorschlags, und Octavius wieder-
holte seine Einsprache. Die Volksmenge geriet in Aufruhr;
als Tiberius zur Abstimmung schreiten wollte, bemerkte man,
daß die Urnen, worein die Stimmtäfelchen geworfen wurden,
weggenommen waren. Wie nun die Volksmenge immer hef-
tiger tobte, und Octavius nicht nachgeben wollte, sagte Tibe-
rius: „Ich weiß kein anderes Mittel als dies, daß einer
von uns sein Amt niederlege. Laß du das Volk über mich
zuerst stimmen, wenn es mich meiner Würde entsetzt, so gehe
ich als Privatmann nach Hause." So beschied er das Volk
auf den andern Tag wieder, um über die Absetzung des
Octavius zu entscheiden.
Am andern Tage wiederholte Octavius abermals seine
Einsprache. Da ließ Tiberius über seine Absetzung stimmen.
Als fast der größte Teil des Volkes sich gegen Octavius
ausgesprochen hatte und seine Absetzung beinahe gewiß war,
trat Tiberius vor aller Augen auf Octavius zu, umarmte
ihn und bat ihn flehentlich, er möge nachgeben. Octavius
weinte und war einige Augenblicke unschlüssig. Als er aber
seine Augen auf die nahe Schar der Optimalen warf, da
befiel ihn Scham, und er hieß den Gracchus thun, was er
wolle. Darauf ward Octavius seines Amtes entsetzt, und
kaum entging er den Händen des erbitterten Volkes. Der
Vorschlag des Tiberius ward nun genehmigt, und drei
Männer zu seiner Ausführung gewählt: er selbst, sein Bruder
Cajus und sein Schwiegervater Appius Claudius.
Es war bereits um die Mitte des Sommers, und es
nahte die Zeit, wo die neuen Volkstribunen gewählt wurden.
Die Reichen dachten den Tiberius zu stürzen, wenn er seine
Würde niedergelegt hätte, und machten vorher alle seine
Schritte gehässig. Und in der That war die Absetzung des
Octavius beispiellos und gesetzwidrig und befremdete sogar
manchen aus dem Volke. Um sich in der Gunst des Volkes