Full text: Anthologie mittelalterlicher Gedichte

Einleitung. VII 
auf Übertragung lateinischer Texte, Anlage von Vokabularien 
Glossen) zu Evangelientexten oder lateinischen Predigten und 
auf wenige selbständige Dichtungen. In der Otlonenzeit ging 
dieses Interesse für die Muttersprache verloren; man schrieb 
lateinisch in Prosa und Vers: hierher gehört die lateinische 
Waltharidichtung der Mönche von St. Gallen. Im 11. Jahtr⸗ 
hundert kehrt die Dichtung zum heimischen Idiom zurück; welt⸗ 
liche Gesänge sind von der asketischen Geistllichkeit jener kirch— 
lichen Bestrebungen vorwiegend zugewandten Zeit der Auf— 
zeichnung nicht für wert befunden worden, wohl aber begegnet 
eine Anzahl geistlicher Dichtungen, teils erzählenden Inhalts — 
Wiedergabe biblischer Geschichten — teils erbauliche Betrachtungen, 
Sündenklagen, Bußgebete, Darstellungen der Himmelswonne und 
der Höllenpein. 
Vaterländische und biblische Überlieferung hatten bisher der 
Dichtung Stoffe zugeführt; in der Staufenzeit, in der sich die 
deutsche Poesie auf einen Höhepunkt erhebt, erfährt sie noch von 
anderer Seite Förderung. Vom Morgenlande her hat sich die 
Vorstellung von einer seltsamen, bunten Welt über den Westen 
verbreitet, von Wundern und Abenteuern, und gespannt lauschte 
man den mäxchenhaften Berichten, die das ferne Heidenland, 
Indien oder Ägypten zum Schauplatz hatten. Aus der klassischen 
Literatur aber floß die Kunde von kühnen Eroberern und Städte— 
gründern, von Kriegszügen und Belagerungen, und alles dies 
vereinigte sich in des Dichters Reimen zu langen, anschaulichen 
Erzählüngen. Also bereichert, nahm zunächst die französische Epik 
einen herrlichen Aufschwuͤng, und auch die höfische Gesellschaft 
diesseits des Rheines ließ sie freudig auf sich wirken. 
Im e zu der breiten Masse des Volkes hatte sich 
nämlich ein Gesellschaftskreis gebildet, der als bevorzugtet 
Krieger⸗ oder Ritterstand berufen war, den kaiserlichen Herrn 
auf seinen Romfahrten zu begleiten oder im heiligen Lande zu 
streiten. Gerade hier trat der Ritter mit seinen romanischen, be— 
sonders französischen Standesgenossen in Verbindung und ließ 
deren ihm weit überlegene feine Bildung ihren bezwingenden 
Einfluß auf sich ausüben. Das deutsche Rittertum erfuhr durch 
diesen Verkehr eine wesentliche Umgestaltung: zahlreiche neue, 
fremde Begriffe und demgemäß fremde Worle stellten sich ein, 
die Umgangsformen rundeten sich, das Ansehen der Frauen 
wuchs, und man verehrte sie als das schönere, schützte sie als 
das schwächere Geschlecht. In diesen höfisch-ritterlichen Kreisen 
fand die aus Frankreich entlehnte Poesie begeisterte Aufnahme. 
Zuerst freilich wagten sich die Ritter noch nicht an die 
HNunst heran, sondern überließen es Weltgeistlichen (Pfaffen), die
	        
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