Full text: Anthologie mittelalterlicher Gedichte

Einleikung. 
höchst einfach und klar, das Wesentliche ist die psychologische 
Entwicklung und die Herausgestaltung des Grundgedankens: „die 
sich willig opfernde Liebe eines reinen Herzens besiegt schließlich 
den Eigennutz auch in fremder Brust, und der reuigen Umkehr 
und Gottergebenheit, aber auch nur ihr, wird schon hienieden 
ihr Lohn zuteil.“ 
Wolfram von Eschenbach nennt sich einen Bayer, ist jedoch 
in Obereschenbach, einem Orte Mittelfrankens, bald nach 1170 
geboren worden. Er war ein Ritter und ein Dienstmann der 
Herren von Wertheim, die ihn mit dem recht armseligen Hof 
Wildenberg, dem heutigen Wehlenberg bei Altenmuhr belehnten 
Er konnte weder lesen noch schreiben, verstand aber Französisch. 
Er dichtete sein Hauptwerk, den Parzival (VIh) im ersten 
Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts. Auch sah er sich früh im 
deulschen Lande um, Schwarzwald und Spessart kannte er aus 
eigener Anschauung, in Thüringen sah er die Verwüstungen, 
die des Laudgrafen Hermann Feindschaft gegen König Philipp 
hervorgerufen hatte, und wiederholt weilte er zu Eisenach am 
Hofe dieses sängerfreundlichen Fürsten. Dem Landgrafen ver— 
dankte er auch die Vorlage zu einem anderen Werke, der Le— 
gende vom heil. Wilhelm, doch hat er diese Dichtung nicht 
bollendet. Wann er gestorben, ist unbekannt, in der Frauenkirche 
zu Eschenbach liegt er begraben. Der Parzival beruht auf 
französischen Gedichten, die drei Bestandteile vereinigen: die 
ursprünglich keltische Sage von Peridur, die vom König Artus 
und die vom heiligen Gral. Die Peridursage ist ein Dümm— 
lingsmärchen: der kindische Knabe zieht aus, um das Glück zu 
suchen, das Leben reift und läutert ihn, und er findet eine Ge⸗ 
mahliit und ein Königreich. Unter dem Gral ist zunächst die 
Schüssel verstanden worden, deren sich Jesus beim leßten Abend— 
mahle bediente und in der Josef von Arimathia das Blut aus 
den Wunden des Gekreuzigten auffiug. Das Mittelalter hat 
eine Anzahl mystischer und legendarischer Züge an sie geknüpft, 
Wolfram sieht indessen in dem Gral nur einen Stein, dem an 
jedem Karfreitag durch eine vom Himmel gesandte Oblate 
Wunderkräfte verliehen werden und dessen Anblick vor dem 
Tode bewahrt. Auf weltabgelegener Burg wird dieses Kleinod 
von einem König und einer Ritterschar, den Templeisen, gehütet; 
wer diese Burg sucht, findet sie nicht; nur wen Gott dahin— 
geführt sehen will, erreicht sie 
Meister Gottfried von Straßburg, ein Elsässer bürgerlichen 
Standes, erzählt die Geschichte von Tristan und Isolde in einem 
langen, doch uͤnvollendeten Gedicht. Auch er folgt französischen 
Quellen. Diesen drei Dichtern reihen sich zahlreiche andere an,
	        
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