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Stuben überfüllt; giftige Fieber verzehrten dort die letzte Lebens¬
kraft der Unglücklichen. Ungezählt sind die Leichen, welche
hinausgetragen wurden; auch der Bürger mußte sich hüten, daß
die Ansteckung nicht in sein Haus drang. Wer von den Fremden
vermochte, schlich deshalb nach notdürftiger Ruhe müde und
hoffnungslos der Heimat zu. Die Buben auf der Straße aber
sangen:
»Ritter ohne Schwert,
Reiter ohne Pferd,
Flüchtling ohne Schuh,
nirgend Rast und Ruh —
so hat sie Gott geschlagen
mit Mann und Roß und Wagen!«
Und hinter den Flüchtigen gellte der höhnende Ruf: »Die
Kosaken sind da!« Dann kam in die flüchtige Masse eine Be¬
wegung des Schreckens, und schneller wankten sie zum Tore
hinaus. Gustav Freytag.
125. Das preußische Volk im Jahr 1813.
Von Memel bis Demmin, von Kolberg bis Glatz war in dem
unvergeßlichen Frühling und Sommer des Jahres 1813 unter den
Preußen nur eine Stimme, ein Gefühl, ein Zorn und eine Liebe,
das Vaterland zu retten, Deutschland zu befreien und den fran¬
zösischen Übermut einzuschränken. Krieg wollten die Preußen;
Gefahr und Tod wollten sie, den Frieden fürchteten sie, weil sie
von Napoleon keinen ehrenvollen Frieden hoffen konnten. »Krieg,
Krieg!« schallte es von den Karpaten bis zur Ostsee, von der
Memel bis zur Elbe. »Krieg!« rief der Edelmann und Land¬
bewohner, der verarmt war; »Krieg!« der Bauer, der sein letztes
Pferd unter Vorspann und Fuhren tottrieb; »Krieg!« der Bürger
den die Einquartierungen und Abgaben erschöpften; »Krieg!« der
Tagelöhner, der keine Arbeit finden konnte; »Krieg!« die Witwe,
die ihren einzigen Sohn ins Feld schickte; »Krieg!« die Braut, die
den Bräutigam mit Tränen zugleich des Stolzes und des Schmerzes
entließ. Jünglinge, die kaum wehrhaft waren, Männer mit grauen
Haaren und wankenden Knieen, Offiziere, die wegen Wunden und
Verstümmelungen schon lange ehrenvoll entlassen waren, reiche
Gutsbesitzer und Beamte, Väter zahlreicher Familien und Verwalter
weitläufiger Geschäfte, alle in Hinsicht jedes Kriegsdienstes ent¬
schuldigt, wollten sich selbst nicht entschuldigen; ja selbst Jung¬
frauen unter mancherlei Verstellungen und Verkleidungen drängten
sich zu den Waffen. Alle wollten sich üben, rüsten und für das