Full text: Die Poesie in der Schule

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115. Abendlied. FIr. Rückert. 
(Gedichte 1872. S. 25) 
4. Ich stand auf Berges Halde, 5. Nun hat der müde Sylphe 
Als heim die Sonne ging, Sich unters Blatt gesetzt, 
Und sah, wie überm Walde Und die Libell am Schilfe 
Des Abends Goldnetz hing. Entschlummert taubenetzt. 
2. Des Himmels Wolken tauten 6. Es ward dem goldnen Käfer 
Der Erde Frieden zu; Zur Wieg' ein Rosenblatt; 
Bei Abendglockenlauten Die Herde mit dem Schäfer 
Ging die Natur zur Ruh. Sucht ihre Lagerstatt. 
3. Ich sprach: „O Herz, empfinde 7. Die Lerche sucht aus Lüfsten 
Der Schöpfung Stille nun, Ihr feuchtes Nest im Klee 
Und schick mit jedem Kinde Und in des Waldes Schlüften 
Der Flur dich auch, zu ruhn.“ Ihr Lager Hirsch und Reh. 
4. Die Blumen alle schließen 8. Wer sein ein Hüttchen nennet, 
Die Augen allgemach, Ruht nun darin sich aus; 
Und alle Wellen fließen Und wen die Fremde trennet 
Besänftiget im Bach. Den trägt ein Traum nach Haus. 
9. Mich fasset ein Verlangen, 
Daß ich zu dieser Frist 
Hinauf nicht kann gelangen, 
Wo meine Heimat ist. 
116. Der Brunnen des Verderbens. Ir. Rückert. 
Gebdichte, Frantkfurt a. M. 1872. S. 109) 
Es ging ein Mann im Syrerland, 26 So schwebend in der beiden Mitte — 
Führt ein Kamel am Halfterband. Da sah der Arme noch das Dritte. 
Das Tier mit grimmigen Gebärden Wo in die Mauerspalte ging 
Urplöhzlich anfing scheu zu werden DesStrãäuchleins Wurzel, dran er hing· 
Und that so ganz entsetzlich schnaufen, Da sah er still ein Mäusepaar, 
Der Führer vor ihm mußt ent— 30 Schwarz eine, weiß die andre war. 
laufen. Er sah die schwarze mit der weißen 
GEr lief und einen Brunnen sah Abwechselnd an der Wurzel beißen. 
Von ungefähr am Wege da. Sie naͤgten, zausten, gruben, wühlten 
Das Tier hört er im Rucken schnauben, Die Erd' ab von der Wurzel spülten; 
10 Das mußt ihm die Besinnung 35 Und wie sie rieselnd niederrann, 
rauben. Der Drach' im Grund aufblickte dann, 
Er in den Schacht des Brunnens Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde 
kroch; Der Strauch entwurzelt fallen würde. 
Er stürzte nicht, er schwebte noch. 
Der Mann in Angst, in Furcht und Not, 
Gewachsen war ein Brombeerstrauch 40 Unstellt, umlagert und umdroht, 
Aus des geborstnen Brunnens Im Stand des jammerhaften 
Bauch; Schwebens 
1h Daran der Mann sich fest that klammern Sah sich nach Rettung um vergebens. 
Und seinen Zustand drauf bejammern. Und da er also um sich blickte, 
Er blickte in die Höh und sah Sah er ein Zweiglein, welches nickte 
Dort das Kamelhaupt furchtbar nah, 45 Vom Brombeerstrauch mit reifen 
Das ihn wollt' oben fassen wieder. Beeren; 
) Dann blickh er in den Brunnen nieder; Da konnt' er doch der Lust nicht 
Da sah am Grund er einen Drachen wehren. 
Aufgãhnen mit entsperrtem Rachen, Er sah nicht des Kameles Wut, 
Der drunten ihn verschlingen wollte, nd nicht den Drachen in der Flut, 
Wenn er hinunter fallen sollte. Und nicht der Mäuse Tückespiel,
	        
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