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Unter den Gefallenen war auch Trittchen. Wir fanden ihn zuerst lange nicht.
Er muß trotz der schweren Verwundung noch ein Ende weitergekrochen sein. Mit
der Hand hatte er wohl im Todeskampf in eine trübselige Grasstaude gegriffen, die
Halme waren ihm zwischen den zusammengepreßten Fingern geblieben. Sein
Gesicht aber war ruhig und bescheiden wie im Leben. Es schien zu sagen: „Bitte,
macht euch meinetwegen keine Mühe!“ Die alten Mannschaften begruben ihn;
es mußte schnell gehen. Ein schmaler Hügel, ein Holzkreuz, ein Kranz aus Wacholder,
den Helm aufs Grab und ein kurzes Gebet. Fertig!
Das Neue Testament gehörte nun mir, und immer, wenn ich darin blätterte,
war es mir, als ob der kleine Schuster neben mir stände, die Lippen regte und mit-
läse. Er verlor seine irdische Dürftigkeit und äußere Unscheinbarkeit. Er strahlte
in der Kraft seines inneren Wesens, und seine Worte, daß sich der größte König in
die schlechtesten Gewänder hüllte und daß Gott stets in Masken ginge, wollten mir
nicht aus dem Sinn.
Ich bin dann verwundet worden und ward heimgeschafft mit vielen anderen.
Bahnhöfe folgten auf Bahnhöfe, und immer waren da neugierige Menschen,
Helfer und Helferinnen. Ach, alle, alle haben sie es gewiß gut gemeint. Aber ich
habe die Augen geschlossen; ich verstand es nicht; ich verirug es nicht. Der Arzt
sagte, ich sei noch „verdattert“. Das hätten viele. Er gibt mir Bücher; doch ich
schiebe sie zurück, wie Trittchen einst den „Faust“. Manchmal möchte ich auch ant—
worten: „Meins ist besser“. Das Neue Testament, dessen schlimmen Zustand man
erst hier in der großen Sauberkeit so recht empfindet, genügt mir.
Ich habe auch keinen Wunsch. Sie fragen mich so oft darum und möchten mir
Kebes tun. Aber ich zerbreche mir den Kopf: Nein, ich wünsche mir nichts. Was
ich habe, ist schon zu viel, so viel, daß ich mich den ganzen Tag immer wundern muß.
Nur ein Bild von dem kleinen Schuster hätte ich gern. Er verschwimmt mir
hier wie damals, als er im Nebel bei der Kuh stand. Aber wer weiß, wo seine Leute
wohnen! Er hatte wohl überhaupt keinen verwandtschaftlichen Anhang, und ich
lann mir auch nicht denken, daß er jemals zum Photographen gegangen ist. Er
war sich zu wenig wichtig dazu.
Carl Busse. (Magdeburgische Zeitung, Nr. 40145, vom 15./17. Januar 1915.)
43. Eine treue Dienerin.
Die Haushälterin einer ostpreußischen Offiziersfamilie, deren Haupt
als Major im Felde steht, während die Herrin in Frankfurt a. M. bei
Verwandten sich aufhält, hat an diese einen Brief geschrieben, in dem
sie ihre Erlebnisse mit den Russen erzählt. Die treue Dienerin schreibt
nach der „Frankf. Zeitung“ folgendes:
Nun will ich der Frau Baronin erzählen, wie es hier gegangen ist.
Also am 20. August war die große Schlacht bei Gumbinnen. Geschossen
wurde, daß Teller und Tassen im Schranke klirrten; verirrte Gewehrkugeln
prasselten gegen die Zãune. Ich hatte das ganze Haus voll Einauartierung;
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