Full text: Homers Ilias und Odyssee nach Voß (Teil 1, [Schülerband])

— 
Die um ein solches Weib so lang' ausharren im Elend! 
Einer unsterblichen Göttin fürwahr gleicht jene von Ansehn! 
Dennoch kehr', auch mit solcher Gestalt, übers Meer sie zur Heimat. 
i60 Nicht bereite sie uns und den Söhnen noch fernerhin Jammer!“ 
Also die Greis', und Priamos rief der Helena jetzo: 
„Komm doch näher heran, mein Töchterchen, setze dich zu mir: 
Daß du schaust den ersten Gemahl und die Freund' und Verwandten! 
Du nicht trägst mir die Schuld; die Unsterblichen sind es mir schuldig, 
165 Welche mir zugesandt den bejammerten Krieg der Achäer! 
Daß du auch jenes Manns, des gewaltigen, Namen mir nennest, 
Der dort unter den Griechen so groß und herrlich hervorglänzt! 
Zwar es ragen an Haupt noch andere höher denn jener; 
Doch so schön ist keiner mir je erschienen vor Augen, 
i7d Noch so edler Gestalt; denn königlich scheint er von Ansehn!“ 
Aber Helena sprach, die edle der Fraun, ihm erwidernd: 
„Ehrwürdig bist du, o teurer Schwäher, ehrfurchtgebietend. 
Hätt' doch den Tod ich gewählt, den herbesten, ehe denn hieher 
Deinem Sohn ich gefolgt, das Haus und die Freunde verlassend 
ich Und mein einziges Kind und die holde Schar der Gespielen! 
Doch das ist nicht geschehen, und nun in Tränen verschwind ich! .. 
Jetzo will ich dir sagen, was du mich und erforschest. 
Jener ist der Atride, der Völkerfürst Agamemnon, 
Beides: ein trefflicher König zugleich und ein tapferer Streiter. 
180 Schwager mir war er vordem, der Schändlichen; ach, er war es!“ 
Jene sprach's, und der Greis bewundert' ihn, laut ausrufend: 
Seliger eeen o gesegneter, glücklichgeborner: 
Ja, fürwahr unzählbar gehorchen dir Männer Achajas! 
Vormals zog ich selber in Phrygiens Rebengefilde, 
18 Wo ich ein großes Heer rossetummelnder e Männer 
Schauete, Otreus' Volk und des götterähnlichen Mygdon, 
Welches umher am Gestade Sangarios weit sich gelaägert; 
Denn ich ward als Bundesgenoss' zu ihnen gerechnet, 
Jenes Tags, da die Sord' amazonischer Männinnen einbrach: 
190 Doch war minder die Zahl, wie der strahlenden Krieger Achajas!“ 
Jetzo erblickt' Odysseus der Greis und fragte von neuem: 
„Nenne mir nun auch jenen, mein Töchterchen; siehe, wie heißt er? 
Weniger ragt er an Häupt, als Atreus Sohn Agamemnon, 
Aber breiteren Wuchses an Brust und mächtigen Schultern, 
195 Seine Rüstung liegt auf der nahrungsprossenden Erde; 
Doch er selbst, wie ein Widder, umgeht die Scharen der Männer: 
Gleich dem Widder erscheinet er mir, dichtwolligen Vließes, 
Welcher die große Trift weißschimmernder durchwandelt.“ 
Ihm antwoͤrtete Helena drauf, Zeus' liebliche Tochter: 
200 „Das ist Laertes' Sohn, der e Odysseus, 
Welcher in Ithakas Reich aufwuchs, des felsichten Eilands, 
Wohlgeübt in mancherlei List und verschlagenem Rate.“ 
Und der vri Greis Antenor sagte dagegen: 
„Wahrlich, o Frau, du hast untrügliche ene geredet. 
20 Denn hieher kam er vorlängst, der edle Mysseus, 
Deinethalben gesandt, und der streitbare Held Menelaos. 
Ich beherbergte beid', in meinem Palast sie bewirtend: 
So daß beider Gestalt und kluger Geist mir bekannt ist. 
Als sie nunmehr in der Troör versammelten Kreis sich begaben, 
10 Ragt' im Stehn Menelaos empor mit mächtigen Schultern: 
Doch wie sich beide gesetzt, da schien ehrvoller Odysseus.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.