Full text: [Teil 3 = Klasse 7 [= 3. Jahrgangsstufe], [Schülerband]] (Teil 3 = Klasse 7 [= 3. Jahrgangsstufe], [Schülerband])

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noch einen Kübel Milch aus und streckte sich dann zum Schlafe nieder, 
ohne sich an unser Jammern zu kehren. Gern hätte ich gleich jetzt ihm 
als Rächer das Schwert ins Herz gebohrt, aber dann wären wir alle 
da ni dem Felsen verschlossenen Höhle vor Hunger gestorben. So 
mußten wir in banger Sorge warten. Am Morgen erwachte er, fraß 
wieder zum Frühstück zwei meiner Gefährten und trieb dann die Herde 
hinaus, vergaß aber nicht, den Felsen wieder vor unser Gefängnis 
zu setzen. 
Äber jetzt am Tage entwarf ich meinen Plan. Sein großes Auge 
wollte ich ihm mit glühendem Pfahle ausbohren und hieb dazu von des 
Riesen eigner Keule die Spitze ab. Zugespitzt und angebrannt verbargen 
wir sie und harrten angstvoll auf den AÄend. Er kam heim, und nach— 
dem er wieder zwei von uns Armen gefressen hatte, schenkte ich ihm 
einen Krug von meinem Wein ein und sagte dreist: „Trink, Zyklop, auf 
Menschenfleisch schmeckt der Wein gut. Sieh, das hatte ich dir als 
Gastgeschenk mitgebracht, aber du machst es zu arg mit uns. Böser 
Mann, wer wird dich künftig besuchen, wenn du so grausam gegen deine 
Gäste bist!“ Er trank—, und sichtlich mundete ihm der Wein. „Gib mir 
doch mehr aus deinem Schlauche da,“ sprach er bald, „und sage mir 
auch, wie du heißt, damit ich für dein Geschenk sorge.“ Ich schenkte 
fleißig ein, und als der starke Wein anfing, seine Sinne zu verwirren, 
sprach ich listig: „Meinen Ramen will ich dir sagen, Zyklop. ‚Niemand 
nennen mich die Leute.“ „Wohl, ‚Niemand soll von euch allen zuletzt 
verzehrt werden, das soll dein Gastgeschenk sein.“ Damit streckte er sich 
auf dem Boden am Feuer aus und war bald durch viehische Trunken— 
heit bewußtlos geworden. Jetzt galt es zu handeln. Der Pfahl wurde 
im Feuer glühend gemacht, und dann faßten wir entschlossen an und 
stießen zu. Wie wenn der Schmied ein glühendes Eisen in kaltes Wasser 
wirft, so zischte das große Auge des Riesen, als es auslief. Mit 
entsetzlichem Gebrüll sprang er in die Höhe und griff verzweifelnd um 
fich, während wir uns in die hintersten Winkel verkrochen. Sein Geschrei 
ete bald feine Nachbarn, die vor die Höhle kamen und fragten: „Bist 
du krank, Polyphem, oder hat dich ein Feind überfallen mit List oder 
Gewalt, daß du so brüllst?“ — „Wehe,“ schrie der Zyklop, „Niemand 
erwürgt mich mit Arglist, Niemand⸗ will mich töten!“ — „Nun, wenn dir 
emand etwas tut, so können wir dir nicht helfen. Bist du krank, so 
flehe zum Poseidon, wir haben kein Mittel.“ So gingen sie wieder, von 
Neinem schlau ersonnenen Namen getäuscht. 
Aber nun galt es noch, listig aus der Höhle zu entkommen, ohne 
daß der Geblendete es merkte, der sich am Morgen dicht an die Felsen— 
lür setzte und unter den entsetzlichen Händen die Schafe und Widder 
durchschlüpfen ließ. Aber ich hatte Seile in der Höhle gefunden; mit 
denen band ich je drei Widder zusammen und unter ihnen immer einen
	        
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