Full text: Lesebuch für die Oberstufe der evangelischen Volksschulen des Herzogtums Oldenburg

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den Neid herabzudrücken, der ihm aus den Augen brach. Die Alten aber traten 
zu dem Fremden und rühmten seine Kunst, und der alte Häuptling begann: „Ich 
kenne, Fremder, wenn mich nicht deine Gebärde täuscht, du bist nicht unkundig 
des Schwunges auch über sechs Rosse, den sie Königssprung nennen, und der 
nicht in jedem Menschenalter einem Helden gelingt. Ich sah ihn einmal, da 
ich jung war, mein Volk niemals.“ Und er rief laut: Führt das sechste Roß 
heran!· Da erhob sich im Kreise Gemurmel, und die Entfernten drängten 
näher herzu, während die Jünglinge eilten, das Roß zu stellen. Ingo trat 
rückwäris zum Sprunge, hob sich gewaltig in die Luft und vollbrachte den 
Schwung, daß alles Volk jauchzte. 
Lange wogten die Zuschauer durcheinander, sprachen über die Kühnheit des 
Fremdlings und rühmten ihn, bis dem Wettkampfe der Männer andre Ziele 
gesetzt wurden. Ingo stand fortan still neben den Häuptlingen, und niemand 
forderte ihn zu neuem Streite. 
Als sich die Sonne von ihrer Höhe neigte, da nahte der Sprecher dem 
Fürsten und lud die Gesellschaft zum Mahle. In fröhlicher Erwartung folgten 
die Männer dem Rufe; sie wandten sich im Zuge zum Hofe und schritten die 
Stufen der Halle hinauf. Der Sprecher und der Truchseß traten ihnen vor 
und ordneten an den Tafeln der Halle jeden nach Rang und Gebühr. Dies 
war eine sorgliche Arbeit, denn jeder begehrte den Platz, der ihm gezieme. 
Dann trat der Schenk mit den Dienern ein und trug in schönen Holzbechern 
den Begrüßungstrunk. Der Wirt erhob sich, trank den Gästen gutes Heil zu, 
und alle standen auf und leerten die Becher. Darauf kam der Truchseß mit 
seinem Siabe und hinter ihm eine lange Reihe Diener, welche die erste Tracht 
auf den Tisch setzten; da ergriff jeder sein Messer, das er an der Seite trug, 
und begann rüstig das Mahl. 
Auf ein slilles Zeichen des Herrn trat der Sprecher vor und rief mit lauter 
Stimme „Die Schwertlänzer nahen und erbitten sich Gunst. 
Ein Pfeifer und ein Sackbläser schritten voran, hinter ihnen zwölf Tänzer, 
junge Krieger aus dem Volke und von des Häuptlings Bank, in weißem Unter— 
kleide mit buntem Gürtel, das blitzende Schwert in der Hand, vor ihnen als 
dreizehnter Wolf, der Schwertkönig, in rotem Gewande. Sie hielten am Ein— 
gange und grüßten, die Waffen senkend; darauf begannen sie den Sang des 
Reigens und schwebten in langsamem Schritte nach dem freien Raume vor der 
Herrenbank. 
In der Mitte hielt der Schwertkönig; die zwölf Genossen umkreisten ihn 
feierlich mit gehobenem Schwerte. Er gab ein Zeichen; die Pfeiser bliesen; 
schneller wurden die Bewegungen, nach rechts schwang sich die Hälste im inneren 
Ringe, die andre von außen entgegengesetzt, und jeder tauschte mit allen, denen 
er dbegegnete, Schwertschlag nach Ordnung der Hiebe. Dann tauchte zwischen 
den blinkenden Schwertern der König hindurch, bald nach außen, bald nach 
innen, im Kreise schwebend; mit seiner Waffe fing und erwiderte er die Schläge 
der andern. Kunstvoller wurden die Verschlingungen, heftiger die Bewegungen; 
einer nach dem andern wand sich wie im Kampfe durch die kreisende Reihe der 
übrigen. Dann teilten sie sich in Haufen, im Talte gegeneinander eilend und mit 
den Waffen streitend, bis sie zugleich je drei und je vier in Kämpferstellung sich 
verflochten. Plötzlich senkten alle im großen Kreise die Schwerter zur Erde und 
verschränkten fich im Nu am Boden zu einem künstlichen Geflechte, das aussah 
wie ein Schild. Der Schwertkönig trat darauf, und die zwölf Genossen ver— 
standen, ihn auf dem Schilde, aus Schwertern geformt, vom Boden heraufzu⸗
	        
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