328 A. Erzählende Prosa. III. Erzählungen.
wohl gewonnen durch sein Schicksal nicht minder als durch seinen Verstand. Er
hatte sich aus niederem Stande emporgerungen und von unten auf viel gehorchen,
auch der Not gehorchen lernen müssen. Seine Stellung in Preußen war bei
aller Anerkennung seiner Verdienste durch seinen König und durch viele Edle doch
die eines Fremdlings, eines beneideten Fremdlings geworden; denn in der bösen
Zeit, seit den Jahren 1805 und 1806 hatte er, von den Eigenen und Fremden
belauert und den welschen Spähern längst verdächtig, auch wo er Großes und
Kühnes schuf und vorbereitete, immer den Unscheinbaren und Unbedeutenden
spielen, sich freiwillig gleichsam zu einem Brutus machen müssen. Auch seine
Rede war diesem gemäß, langsam und fast lautlos schritt sie einher, sprach aber
in langsam dehnendem Ton kühnste Gedanken oft mit sprichwörtlicher Kürze aus.
Schlichteste Wahrheit in Einfalt, gradeste Kühnheit in besonderer Klarheit: das
war Scharnhorst; er gehörte zu den wenigen, die glauben, daß man vor den
Gefahren auch keinen Strohhalm von Wahrheit und Recht zurückweichen darf.
Soll ich noch daran erinnern, daß dieser edle Mensch, durch dessen Hände als
des stillen und geheimen Schaffers und Bereiters Millionen hingeglitten waren,
auch nicht den Schmutz eines Kupferpfennigs daran hatte kleben lassen? Er ist
ein vir innocens im Sinn der großen Alten gewesen; er ist arm gestorben.
So war die Art und Gebärde dieses ernsten und tugendhaften Mannes,
der tiefer als irgend einer des Vaterlandes Weh gefühlt und mehr als irgend
einer zur Heilung desselben gestrebt und gewirkt hat. Wenn er so dastand,
auf seinen Stock gelehnt, sinnend und überschauend, gesenkten Haupts und halb—
verschlossenen Auges und doch zugleich kühnster Stirn, hätte man meinen mögen,
er sei der Todesgenius, der, über den Sarkophag der preußischen Glorie gelehnt,
den Gedanken verklärte: ‚Wie herrlich waren wir einst!“
III. Erzählungen.
264. Das Testament.
Von Friedrich Jacobs. Ährenlese aus dem Tagebuche des Pfarrers von Mainau. Leipzig, 1828.
Auf einer Reise, die ich nach Vollendung meiner medizinischen Studien durch
Frankreich machte, kam ich nach Reims. Ich hatte die Merkwürdigkeiten der
alten Stadt besehen; der Morgen war heiß, und ich kam hungrig und durstig
in den Gasthof zurück. Man hatte sich eben zu Tisch gesetzt Ich forderte ein
Glas Wasser. Aber das Wasser war so schlecht, daß ich es trotz meines Durstes
nicht trinken konnte. „Wie kommt das?“ sagte ich. Der Wirt zuckte die Achseln.
„Es wird bald besser werden,“ antwortete er. Da mir diese Antwort elwas
sonderbar vorkam, sah ich meinen Tischnachbar lächelnd an. „Herr Davriant
hat recht,“ sagte dieser. „Wir können bald auf besseres Wasser hoffen. Man
ist eben beschäftigt, eine Leitung bis zu einer Stelle zu führen, wo gutes und
reines Wasser im Überfluß quillt. Wenn Sie also im nächsten Jahre wieder—
kommen, so werden Sie dieser Klage wahrscheinlich abgeholfen sehn.“ Ein
Geistlicher, der mir gegenüber saß, nahm jetzt das Wort und sagte: „Ist es
auch recht, meine Herren, das Gute zu genießen, in der Hoffnung wenigstens,
und seinen Urheber zu vergessen? Dieser Herr ist ein Freinder, und ich denke,
es wird unsrer Stadt nicht zur Unehre gereichen, wenn der Zusammenhang der