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In der Hutfabrik.
nur e i ii Heilmittel gab — einen Ausflug in die freie Natur, in die anmutige
Umgebung der großen Stadt, die damals noch als Hauptstadt der Welt galt.
Gedacht, gethan. Mit mehreren Gesinnungsgenossen begaben wir uns
nach dem Anlegeplatz der Dampfschiffe, um nach St. Cloud zu fahren und
dort im Schatten herrlicher, alter Bäume Geist und Körper erquickender Ruhe
zu überlassen. Ich stand auf dem Deck und beobachtete die Ufer, an denen
das Schiff vorüberglitt. Auf einmal erhielt mein schöner, grauer Hut von
der Stange des Bootsmanns einen Stoß, daß ich barhäuptig dastand, während
der Hut auf eigene Hand eine Wasserfahrt machte. Vergeblich bemühte sich
der Bootsmann, seine Ungeschicklichkeit wieder gut zu machen. Das Boot
legte bei der Weltausstellung an, und ich war gezwungen, auszusteigen. Da
stand ich nun auf der Landungsbrücke und sah, wie das Dampfschiff lustig
davonrauschte.
Eine mitleidige Seele in Gestalt des auf der Landungsbrücke stehenden
Sergeanten näherte sich mir: „Mein Herr, Sie haben Ihren Hut verloren?“
— „Er nimmt ein unfreiwilliges Bad in der Seine.“ — „Ah, das ist merk¬
würdig. Aber Ihr Hut wird schwimmen können. Er wird hier vorbeikommen,
wir werden ihn wieder erhalten. Ich achte auf alles, was die Seine daher¬
wälzt . . . Sehen Sie, ist das Ihr Hut?“
Richtig, da kam er angeschwommen. Ein Boot wurde losgemacht, und
in wenigen Minuten war der Flüchtling in meinen Händen. Aber in welcher
Verfassung! Nur einer Vogelscheuche konnte er zur Zierde gereichen. Woher
nun einen Hut nehmen? Es war Sonntag und die Ausstellung überdies
fernab von den Modemagazinen gelegen. Da erinnerte ich mich, daß in der
Ausstellung eine Hutfabrik in Tätigkeit war. Dorthin lenkte ich meine
Schritte. Eine kleine Auswahl von Hüten war allerdings vorrätig, aber keiner
paßte. „Warten Sie ein wenig, wir werden Ihnen sofort einen Hut anfertigen,
wie Sie ihn wünschen,“ tröstete man mich. „Befehlen Sie schwer oder leicht?“
— „Mittel,“ erwiderte ich.
Ein Mädchen nahm von den Kaninchenhaaren, welche nach Farbe und
Qualität gesondert waren, und wog 110 g davon ab. Das war das Roh¬
material zu dem Hute. Dann breitete sie die Haare auf einer mittelst
Dampf erhitzten, eisernen Platte aus, die durch eine Maschinerie in einen
Apparat geschoben wurde, in welchem Bürsten die Haare auseinanderzerrten.
Die trockenen, auseinandergezerrten Haare wurden nun von einem kräftigen
Luftstrom ergriffen, den ein Gebläse erzeugte, und gegen einen durchlöcherten,
kupfernen Kegel geblasen, der sich langsam um seine Achse drehte. An
diesen Kegel legten sich die Haare kreuz und quer übereinander in Gestalt
einer zarten Decke. Als dies geschehen war, wurde ich gefragt, ob ich
besonders gute Qualität wünschte. Ich entschied mich für gute Qualität.
Hierauf wurden sehr feine, weiche Haare genommen und in derselben Weise
auf die Haardecke geblasen, welche bereits auf dem kupfernen Kegel lag,
so daß die gröberen Haare einen Überzug von zartem Flaum erhielten. Man
nennt diese Operation „plattieren“.* Nun galt es, die lockeren Haare in festen
Filz zu verwandeln. Ein nasses Tuch wurde zu diesem Zwecke auf den