2 Auswahl patriotischer Prosa.
höher zu steigen wähnten, glitten wir abwärts und stürzten
dann ebenso plötzlich hinunter. Denn wir begannen auf unsere
Stärke zu pochen, auf die Furcht uns zu verlassen, welche wir
185 anderen Völkern einflößen könnten, und so sollte uns ohne
Anstrengung der eigenen Kraft, ohne eigene gottgefällige Werke
die Nachwirkung des alten Ruhmes immer höher tragen; wir
wurden der Mann, der Fleisch für seinen Arm hält, und dessen
Herz von dem Herrn weicht. Unredlicher Gewinn vergrößerte
190 unser Gebiet auf eine mehr scheinbare als gedeihliche Weise,
denn wir gewannen nur wenig wahre Brüder, die gern den—
selben Gesetzen folgten und auf dasselbe Ziel arbeiteten; indem
andere Staaten sich anstrengten und aufrieben in immer
wiederholten Kriegen zum Teil um dieselbigen hohen Güter,
195 für die wir jetzt kämpfen wollen, meinten wir durch die Ruhe
immer mächtiger zu werden und furchtbarer. So solgte all—
mählich auf die trotzige Klugheit eine verzagte, und wir wurden
noch auf eine andere Weise der Mann, der sich auf Menschen
verläßt; denn auch wer Menschen schmeichelt und sie fürchtet,
200 verläßt sich auf Menschen. Mit unserm Ruhm selbst ward
auch unser Ehrgefühl je länger je mehr ein Schattenbild. Und
immer mehr wich unser Herz von dem Herrn; in einem auf⸗
geblasenen unnatürlichen Wohlstand verloren sich immer mehr
die alten Tugenden, eine Flut von Eitelkeit und Verschwendung
205 verheerte die mühsamen Werke langer besserer Jahre; und wie
deullich sich auch die Stimme des Herrn vernehmen ließ und
uns ermahnte zur Buße: wir gehorchten ihm nicht, wir taten
Böses vor seinen Augen, und darum reuete ihn das Gute,
das er verheißen hatte uns zu tun. Und plötzlich, als es eben
210 schien, wir wollten uns aufraffen aus der langen Verblendung
und Betäubung, in der aber die meisten nur noch ärger als je
befangen waren, plötzlich redete der Herr wider uns als wider
ein Volk und Königreich, das er ausrotten, zerbrechen und ver—
derben wolle. Da überfiel uns jenes schwere, zermalmende
21l5 Kriegsunglück, und auf diesen plötzlichen Sturz von der Höhe
in den Wgrund folgte das immer tiefer und schmerzlicher sich
eingrabende Verderben des Friedens. Ich rede nicht von den
Enlbehrungen, von der Not, von der Verarmung, von der
immer steigenden Verwirung in allen äußeren Lebensverhält⸗
220 nissen, sondern nur von dem innern geistigen Verderben, das