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. Inmitten dieses mannigfach bewegten geistigen und politischen
Lebens der europäischen Menschheit wandelten nur die Juden noch
weiter in der Nacht des Mittelalters, das für sie nicht endete, als mit
dem sechzehnten Jahrhundert das Licht eines neuen Tages für die
Mitwelt aufgegangen war. Länger als ein Jahrtausend hindurch waren
sie mit der allgemeinen Kultur vorwärts gewandert, dem Sonnenlichte
nach, fortschreitend und innerlich reifend auf dem Zuge von Osten nach
Westen. Jett trat der erzwungene Rückschritt ein. Gewaltsam dräugte
man sie nach Osten zurück und zwang sie zum geduldigen Ausharren
in Nacht und Finsternis.
Diejenigen Flüchtlinge, deren Väter einst in Spanien erfahren
hatten, daß die Lage der Juden dort eine bessere sei, wo alle drei
Religionen nebeneinander wohnten und nicht eine allein von allen
Staatsrechten ausgeschlossen werden konnte, wanderten nach den mohamme-
danischen Reichen und zerstreuten sich bis an den Euphrat. Die
deutschen Juden aber, an gar enge und kleinliche Zustände gewöhnt,
waren froh, in den slavischen Ländern eine Stätte zu erreichen, wo
sie wenigstens ein erträglicheres Los fanden, als ihr bisheriges gewesen
war. Sie nahmen in die Fremde vor allem ihren gottesdienfstlichen
Ritus mit, der sich mit der Zeit vom deutschen in den polnischen
verwandelte, und dazu ihre damals richtige deutsche Sprache, die sich
allmählich mit hebräischen und anderen sprachlichen Bestandteilen
mischte und zum jüdisch-deutschen Dialekt verbildete. Bis an die
Ufer der Wolga und darüber hinaus bürgerte sich diese Mundart mit
den Juden ein und in allen diesen weiten Länderstrecken bildeten die
ehemals deutschen Juden einen Hauptteil der Einwohnerschaft. Sie
waren hier nahezu die einzigen Handel- und Gewerbetreibenden und
wurden zu ihrem Unglück vom Adel des Landes als Werkzeug miß-
braucht, um die tatarische Urbevölkerung durch Wucher und Trunk zu
verderben. Auch in dieser kümmerlichen Zeit, inmitten der Unwissenheit
und sittlichen Verworfenheit ihrer Umgebung, behielt der Geist der
Juden seinen regen Trieb nach idealer Betätigung und ihr Gemüt sein
menschliches Mitgefühl. Hingebung und Treue heiligten jedes Haus
und wahrhaste Bruderliebe verwandelte den Flüchtlingen die Fremde
zur Heimat. Wohin auch der verarmte, vertriebene Jude kam, überall
empfingen ihn seine Glaubensbrüder wie einen Angehörigen. Er war
kein Bettler, kein Fremdling, sondern ein Gast, der seinem Gasstfreund
eine Ehre antat. So gelangten mitten im Elend die edelsten Gefühle
zu herrlicher Blüte.
Hierher nach den slavischen und türki schen Ländern, in welchen
von einheimischer Kultur und Wissenschaft kaum die Rede war, wurde