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Aber an der Weser saß ein tapferes, alles Fremde hassendes Volk.
Es waren die Cherusker, die mehr als die übrigen deutschen Stämme
zusammenhielten. Voll Ingrimm sahen sie die fremden Krieger. Sie
mochten nicht, wie es andere getan hatten, ihre Wohnsitze verlassen,
um vor den Römern in das Innere zu ziehen. Im feierlichen Waldes¬
dunkel reichten sie einander die Hände mit dem Gelöbnis, die Eindring¬
linge von dem Boden ihrer Väter zu vertreiben. Ehe es sich der
römische Feldherr Drusus versah, regte es sich in allen Tälern, auf
allen Bergen, und unheimlich ward es dem Römer. Plötzlich sah er
sich angegriffen und wäre einer schinachvollen Niederlage nicht entgangen,
Hütten die Deutschen noch besser zusammengehalten und wären sie nicht
über die zurückgelassene Beute der Römer hergefallen. Drusus wich an
den Rhein zurück, kam aber wieder und drang sogar bis zur Elbe vor.
Es fehlte an einem Manne, der die einzelnen Stämme zu gemeinsamer
Tat vereinigt hätte. An der Elbe war die römische Siegesbahn zu
Ende. Vergebens versuchte Drusus den Übergang. Drohend zogen von
allen Seiten Kriegswolken heran, und ein riesenhaftes Weib am jen¬
seitigen Ufer rief die ernsten Worte herüber: „Drusus! Drusus! Hier
ist das Ende deiner Taten und deines Lebens!" Drusus schauderte.
Genötigt, einen schnellen Rückzug anzutreten, beunruhigen neue Unheils¬
zeichen den abergläubischen Römer. Sein Roß stürzt aus dem unheim¬
lichen Boden; er verletzt sich schwer und findet seinen Tod, ehe er den
Rhein erreicht.
Was Drusus nicht hatte vollbringen können, wollte Varus er¬
reichen. Nene Zwingburgen wurden angelegt, neue Straßen gezogen;
mit Ehrenstellen schmeichelte man den Angesehensten; durch Eifersucht
suchte man die Völker zu entzweien. Schon hatten einzelne Germanen
ihre deutschen Namen abgelegt und römische angenommen; schon fanden
viele an dem römischen Wohlleben, an der römischen Prunksucht Ge¬
fallen, besuchten die Marktplätze im feindlichen Lager und ahnten nicht,
welches Los man ihnen zu bereiten gedachte.
Unvermerkt rückten neue Legionen nach; ein Heer von Beamten,
Unterbeamten und Gerichtsdienern folgte ihnen. Die waffentragende
Mannschaft suchte man mit List oder Gewalt zum römischen Heeresdienst
zu bringen. Römische Beamte nahmen Schätzungen des Vermögens vor,
um danach die Abgaben zu bestimmen; den Deutschen waren solche bis
dahin unbekannt gewesen. Kam es zu Widersetzlichkeiten, so wurden die
Widerspenstigen vor Gericht geladen und nach römischem Gebrauche ab¬
geurteilt. Dies aber war gerade der Punkt, der die Freiheitsliebe der
Deutschen am schmerzlichsten verwundete.
Bisher waren sie gewohnt gewxsen, durch selbstgewählte Männer
nach altem Recht und Brauch gerichtet zu werden. Jetzt wurden sie in
die Schranken eines römischen Lagers vorgeladen, dessen Eingänge
Soldaten bewachten. Auf einem erhöhten Vierecke stand der Richterstuhl.
Mit langem, purpurbesetztem Kleide angetan, erschien der Richter. Ihm
voraus schritten zwölf Männer mit einem Bündel Birkenrnten, worin
ein Beil stak, das die Macht ihres Herrn, Verurteilte zu züchtigen