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die Redensarten. !) Reiche Vorratskammern für die Ausbildung des ge-
schichtlichen Denkens eröffnet uns auch der D ialekt.?) Denn er hat manches
Wort — getreu nach Lautbestand und Inhalt — aus dem Mittelhochdeut-
schen (und noch früherer Zeit) in die Gegenwart herübergerettet, so daß
bei dem Aussprechen solcher Wörter das Mittelalter selbst zu uns redet.
Wenn wir so die Sprache des Alltags mit geschichtlichem Blicke anschauen
lassen, dann werden manche Dinge, die vordem regelwidrig schienen,
trocken und gleichgültig waren, anziehend und belebt und gewinnen an
Klarheit. %) Neben den Veränderungen, welche das Äußere, das Kleid der
Sprache im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat, ist es auch die Werkstätte
des Sprachgeistes 4) selbst, die uns interessiert und in die wir Blicke werfen
lassen. Kommen derartige Mitteilungen und Erfahrungen in erster Linie der
Sprech- und Sprachfertigkeit der Schüler zu statten, so darf man es nicht
übersehen, daß auch hier zu beobachten ist, wie es nichts Seiendes gibt,
sondern alles geworden ist, also Geschichte hat, 5)
Sitten. und Bräuche der Vorzeit werden auch aus vielen. Kinder-
verschen‘®) kund. „Sie sind das Spiegelbild deutscher Treue und Recht-
lichkeit, deutschen Glaubens und Aberglaubens, deutscher Kraft und Derb-
heit, deutscher Herzlichkeit und Arbeitslust, aber auch deutscher Unarten
und Fehler. Als deutsche Hausaltertümer und Denkmäler deutscher Sitte
verdienen solche Reime Beachtung.“ Die Gebrüder Grimm behaupten, daß
eigentlich nur auf dem Gebiete der Sage‘) dem Volke die Geschichte zu:
gänglich gemacht werden könne. Und in der Tat können Sagen — ganz
?) Vgl. das Literaturverzeichnis. (Seite 1.) (Borchardt, Schrader, Richter, Blum-
schein: a. a. O.), ferner J. E. Wülfing, Was mancher nicht weiß. (Jena 1905, Costenoble)
und E. Wilke, „Deutsche Wortkunde.“ (Leipzig, 1893) u. a.
?) Vgl. R. Hildebrand, a. a. 0, 85.257 u ff., Prof. Weise, a. a. O., 8. 72
u. ff, 168 u. ff,; ferner Polle- Weise, „Wie denkt das Volk über die Sprache.“ (3. Aufl.
Leipzig 1904); A. Richter, „Der Unterricht in der Muttersprache und seine nationale
Bedeutung“ (Leipzig 1872) u. a, m.
3) Z. B. Orthographisches, Biegungsformen, Wortbildungen u. dgl.
*) Ich denke da an Bedeutungswandel, - verengerung, - erweiterung, Verschiebung
des Gefühlswertes u. dgl., die ja mit unter kulturgeschichtlichem Einflusse stehen. ‚Vgl.
Weise, a. a. O., 8 159 u. f., dann 0. Erdmann, „Die Bedeutung des Wortes“
(Leipzig 1900), Fr. Harder, „Werden und Wandern unserer Wörter“ (Berlin 1846),
Hildebrand, a. a. O.,, Dr. H. Dunger, „Zur Schärfung des Sprachgefühles* (Berlin
1906) u. dgl. (Siehe auch Literaturnachweis !}
®) Es ist klar, daß diesen Dingen vorwiegend in den Sprachstunden nachzugehen
sein wird. An deren Ergebnisse wird dann die Geschichtslehrstunde anknüpfen.
°) Vgl. Fr. Magnus B öhme, „Deutsches Kinderlied und Kinderspiel“ (Leipzig 1897):
Karl Simrock, „Das deutsche Kinderbuch“ (Frankfurt, 1879), Vernaleken u. Branky
„Spiele und Reime der Kinder in Österreich“ u. a. m.
7) Vgl. dazu A. Heinrich, a. a. 0., 8. 4 u.f. — Für unsere Verhältnisse kommen
n Betracht: E. Hofmann: a) Alt-Wien, 5) Sagen und Legenden vom Stephansdom
(Pichler), c) Holczabek-Winter, Sagen und geschichtliche Erzählungen der Stadt
Wien (K, Gräser), d) Bermann-Umlaaft, Sagen und Geschichten aus der Kaiserstadt