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Verbrüderung der Kampfgenossen und vor allem die Angst vor den Göttern schützt
den einzelnen vor Gewalttat. Mord und Totschlag werden durch Blutrache gesühnt,
die der Familie des Erschlagenen als Pflicht obliegt.
Die kretisch-mykenische Kultur. Unter dem mächtigen Einflusse Ägyptens
und Babyloniens hat sich die trojanische Kultur zur kretisch-mykenischen entwickelt.
Der Mittelpunkt derselben war Kreta, das von den Ägäischen Inseln dem Orient
am nächsten liegt. Solange die Schriftdenkmäler dieser Epoche noch unentziffert sind,
Jäßt sich nicht entscheiden, welchem Stamme die Kreter angehörten. Nur ein Ausläufer
der kretischen Kultur, der weit hinter dieser zurückblieb, war die mykenische. Die
Träger derselben sind die eingewanderten griechischen Stämme, die gelehrige Schüler
der Kreter wurden, aber dabei ihre urwüchsige Eigenart behaupteten. Den mykenischen
Charakter weist auch die viertoberste Schicht von Tr o ia auf, die mit „zyklopischen“
Mauern befestigte, planmäßig angelegte „sechste Stadt‘, die von dem thrazischen
Stamme der Troer oder Dardaner besiedelt war,
Die Zeit der kretisch-mykenischen Kultur reicht von 2000—1300 v. Chr. Die griechische Sage
bewahrt eine dunkle Kunde von dem gewaltigen Seekönig Min os, der von Kreta aus weithin über
das Meer gebot. Die Anlage der großartigen Königspaläste in Knosos und Phaistos beweist in der Tat,
daß sie einem Fürsten gehört haben, der die ganze Insel beherrschte und dessen Flotte stark genug
war, jeden Feind fernzuhalten; sie sind weder künstlich befestigt noch durch schwerzugängliche
Lage vor Angriffen gesichert. Über eine weite Fläche erstreckt sich die unübersehbare Fülle von mehr-
stöckigen Wohn-, Repräsentations- und Magazinsräumen, die um einen geräumigen, rechteckigen
Zentralhof gruppiert sind. Breite, festliche Freitreppen führen vom Hofe empor. In den Gemächern
des Palastes wurden als wichtiges, der ägyptischen. Kunst entnommenes Bauglied Holzsäulen ver-
wendet, die mit ihrem wulstigen Kapitell zum späteren griechischen Säulenstil überleiten. Eine
prunkvolle Ausstattung, bei der, wie die Überreste zeigen, Gold, Silber und Bronze, Elfenbein und
Edelsteine zur Verwendung kamen, muß diesen Herrschersitzen einen Glanz verliehen haben, wie er
damals nur noch in Theben und Babylon zu finden war,
Die Wandgemälde (Taf. 12) und die Erzeugnisse der Steinschneidekunst (Glyptik) und Ton-
industrie (Keramik) beweisen, daß die Schöpfer dieser Werke der ägyptischen und babylonischen
Kunst die. technischen Mittel und vieles Gegenständliche abgelauscht haben. Sie standen jedoch
nicht, wie die Orientalen, unter dem Banne einer uralten Überlieferung und konnten daher, was sie
mit eigenen Augen sahen, frei von aller konventionellen Steifheit in selbständiger Eigenart, mit
wunderbar frischer, unbefangener Naturtreue wiedergeben. Im Gegensatz zu den plumpen Formen
der trojanischen Kultur zeigen die Schöpfungen der kretischen Kunst und Kunstindustrie (Taf. 12)
zumeist eine Vorliebe für anmutige und schlanke Formen. Durchaus selbständig ist auch die Ver-
zierung der Vasen; die älteren!) prangen im bunten Spiel farbiger Ornamente, die späteren zeigen
in glänzend schwarzem Firniß scharf beobachtete Seepflanzen, Polypen, Muscheln, Tintenfische und
phantastische Wesen der diesen Völkern so vertrauten See,
Tausende von Tontafeln, die sich in den kretischen Palästen gefunden haben, werden dereinst
Aufschlüsse über das geistige Leben dieses Zeitalters geben. Die Religion der Insulaner steht jener
der Kleinasiaten am nächsten, Auch in Kreta wurde die große Naturgöttin verehrt. Ein religiöses
in Kleinasien heimisches Symbol, das sich häufig findet, ist die Doppelaxt, die Waffe des Gewitter:
gottes. Aus ihrem Namen „Labrys““ ist die Bezeichnung des kretischen „Labyrinth s*‘ entstanden.
in dem man jetzt den Palast von Knosos wiedererkennt. Wie bei den Ägyptern genoß eine Stier-
gottheit große Verehrung, die bald als stierköpfiger Mann, bald unter dem Symbol eines Doppel-
hornes dargestellt wird. Auch die Sage weiß noch vom „Minotauros“ zu erzählen, dem die von
Minos unterworfenen Länder, darunter auch Attika, edle Jünglinge und Jungfrauen als Tribut dar-
bringen mußten.
ıy Die „ Kamaresvasen‘, genannt nach einem ihrer Fundorte (Taf. 12).