fullscreen: Lehr- und Lesebuch oder die Vaterlands- und Weltkunde

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„Trotziger Schütze, so strafe dich deine eigene Kunst! Einen Apfel lege 
ich auf das Haupt deines Söhnleins Walther, den schieße herab und 
fehle nicht!" Und sie banden das Kind und legten auf das Haupt 
desselben einen Apfel und führten den Schützen weit davon. Er zielte. 
Da schwirrte die Bogensehne; und der Pfeil durchbohrte den Apfel. 
Alles Volt jauchzte freudig. Geßler aber fragte den Schützen: „Wozu 
trägst du noch den andern Pfeil bei dir?" Es antwortete Tell: 
„Hätte der erste nicht den Apfel getroffen, dann gewiß der andere 
dein Herz!" 
Deß erschrak der Vogt und ließ den Schützen greifen und auf ein 
Schiff führen nach Küßnacht, wohin er selbst zu fahren gedachte. 
Denn den Tell im Lande Uri einzukerkern, schien wegen des Volkes 
nicht rathsam; ihn aber in ausländische Gefangenschaft zu schleppen, 
war wider des Landes Rechtsame. Darum fürchtete der Vogt Zusam¬ 
menlauf des Volkes und fuhr schleunig ab, wiewohl der warme Föhn¬ 
wind blies. Der See ging hohl und die Wellen schlugen schäumend 
über, daß Allen bange ward, und die Schiffsleute verzagten. Je 
weiter im See, je größer in Todesnoth; denn da steigen Uferberge 
jäh aus dem Abgrund des Gewässers wie Mauern zum Himmel. In 
schwerer Angst ließ Geßler dem Tell die Fesseln abthun, damit der¬ 
selbe, als guter Schiffer, das Fahrzeug lenke. Aber der Tell lenkte 
gegen die kahle Wand des Gebirges, wo eine nackte Felsplatte wenige 
Schritte weit in den See hervortritt. Schwung und Sprung; — 
der Tell hinaus auf die Platte, das Schiff hinaus auf den Vier- 
waldstädter-See. 
Nun kletterte der Erlöste den Berg hinauf und floh durch das 
Land Schwyz. Und er dachte in seinem bekümmerten Herzen: „Wohin 
entfliehen dem Zorne des Gewaltherrn? Und entrinne ich seiner Bos¬ 
heit, so hat er in der Heimath mein Weib und Kind zum Pfand. 
Was wird nicht der Geßler gegen die Meinigen verhängen, wenn 
Landenberg schon, um zwei gebrochener Finger seines Knechtes willen, 
dem Alten von Melchthal beide Augen ausbohrte! Wo ist der Richter¬ 
stuhl, vor den ich Geßler lade, wenn der König selbst des ganzen 
Volkes Klage nicht mehr anhört? Ist aber kein Gesetz gültig, und 
keiner, der da richtet zwischen mir und ihm; so stehen wir, Geßler, 
du und ich, gesetzlos beide, und Nothwehr richtet. Soll eins von 
beiden fallen, unschuldig Weib und Kind und Vaterland, oder, 
Vogt Geßler, du: so falle du, und Freiheit steige wieder!" 
So dachte der Tell und floh mit Pfeil und Bogen gen Kü߬ 
nacht und harrte in der hohlen Gasse bei dem Ort. Da kam 
der Vogt; da schwirrte die Bogensehne; da durchbohrte der freie Pfeil 
das Herz des Gewaltherrn Hermann Geßler von Brunnegg. 
Das ganze Volk erschrak freudig, als es den Tod seines Unter¬ 
drückers vernahm. Die That des Tell verlieh höhern Muth. In 
der Nacht des Neujahrs wurden die Landespeiniger vertrieben und ihre
	        
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