29. Aus Tagen deutscher Not.
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auf seinem Mantel eingeschlafen. Als er in der Morgendämmerung erwachte,
waren seine Kameraden fort. Die Schiffe fuhren weiter nach Bremen.
Von hier sollte es auf kleinen Weserfahrzeugen weitergehen. Deshalb
wurden die Lente ausgeladen und lagerten am Ufer der Neustadt, nicht weit
von der Brücke, welche diese mit der Altstadt verband. Es war nachmittags. 5
Die Brotration war eben verteilt worden; sie war klein und schlecht. Seume
sprach das dem Feldwebel gegenüber aus und erklärte, wenn es schon zu
Schiffe nicht anders gegangen sei, hier zu Lande brauche mau doch keine
Steine statt des Brotes zu geben; ja, er verweigerte die Annahme der un¬
gesunden Nahrung. Der Feldwebel erwiderte, dann möge er hungern, das 10
werde ihm wohl Appetit machen. Aber Seume war gereizt; er hatte gegen
seine Gewohnheit und aus Freude, den Boden der Heimat unter den Füßen
zu haben, einige Gläser Wein getrunken und vergaß seine sonstige Selbst¬
beherrschung. Er redete laut und heftig, so daß noch einer der Offiziere
herankam und fragte, was es hier gebe. „Müssen wir auch hier noch Brot 15
essen, in dem die Würmer nisten, und das man mit Steinen zerschlagen muß,
Herr Leutnant?'' rief Seume erbittert. „Zum Donner, Herr! Er ißt, was
Er erhält!" „Dazu kann kein Mensch mich zwingen! Jst's nicht menschen¬
unwürdig. hier in der großen Stadt, wo es genug gutes Brot gibt, uns
zu füttern mit einer Nahrung, welche die Hunde verschmähen würden?" — 20
„Er ist ein Räsoneur und muß tüchtig uuter die Fuchtel kommen!" schrie
der Leutnant. „Man müßte wenigstens erlauben, daß man für sein eigenes
Geld sich Brot kaufen dürste!" murrte Seume.
Der Offizier wußte, daß Seume bei dem Obersten gut angeschrieben
war, darum sagte er unwirsch: „Na, so geh' Er in's Teufels Namen und 25
kaufe Er! Aber in fünf Minuten ist Er zurück!" — „Zu Befehl!"
Seume klopfte das Herz heftig, aber er bezwang sich. Jetzt war
vielleicht der Augenblick gekommen, der ihm Freiheit bringen konnte; er mußte
benutzt werden, koste es, was es wolle. Scheinbar ohne Eile entfernte er
sich und ging über die Brücke nach der Altstadt. Am jenseitigen Ufer be- 30
gegnetc ihm ein älterer Herr, der ihn einigermaßen verdutzt ansah und fragte:
„Frennd, Ihr seid wohl ein hessischer Deserteur?" „Und wenn ich einer
wäre?" erwiderte Seume einigermaßen verwirrt, worauf der andere freundlich
und vertraulich sprach: „Da muß ich Euch sagen, unser Magistrat hat einen
Vertrag mit dem Landgrafen; darum seht, daß Ihr aus der Stadt kommt. 35
Dort hinaus geht's nach dem Oldenburgischen!"
Seume atmete tief auf. Er wußte, was nun geschehen mußte. „Ich
danke!" sagte er warm zu dem Bürger; dann schaute er zurück nach der
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