Full text: Moderne deutsche Dichter

— 126 — 
15 
ca 
28 
Als die Sonne einige Spannen hoch gestiegen, verschloss er wieder 
die Fenster vor der schönen Welt mit allem, was dranßen lebte und 
webte, und ließ nur einen einzigen Lichtstrahl in den verdunkelten Raum 
durch ein kleines Löchlein, das er in den Laden gebohrt hatte. Als 
dieser Strahl sorgfältig auf die Tortur gespannt war, wollte Reinhard 
ungesäumt sein Tagewerk beginnen, nahm Papier und Bleistift zur Hand 
und guckte hinein, um da fortzufahren, wo er gestern stehen geblieben. 
Da fühlte er einen leise stechenden Schmerz im Auge; er rieb es mit 
der Fingerspitze und schaute mit dem andern durch das Rohr, und auch 
dieses schmerzte, denn er hatte allbereits angefangen, durch das anhaltende 
Treiben sich die Augen zu verderben, namentlich aber durch den unauf— 
hörlichen Wechsel zwischen dem erlenchteten Krystall und der Dunkelheit, 
wenn er in dieser seine Zahlen schrieb. 
Das merkte er jetzt und fuhr bedenklich zurück, wenn die Augen 
krank wurden, so war es aus mit allen sinnlichen Forschungen, und 
Reinhard sah sich dann auf beschauliches Nachdenken über das zurück— 
geführt, was er bislang gesehen. Er setzte sich betroffen in einen weichen 
Lehnstuhl, und da es nun gar so dunkel, still und einsam war, beschlichen 
ihn seltsame Gedanken. 
Nachdem er in munterer Bewegung den größten Theil seiner Ingend 
zugebracht und dabei mit Aufmerksamkeit unter den Menschen genug 
zesehen hatte, um von der Gesetzmäßigkeit und dem Zusammenhange 
der moralischen Welt überzeugt zu werden, und wie überall nicht ein 
Wort fällt, welches nicht Ursache und Wirkung zugleich wäre, wenn auch 
so gering wie das Säuseln des Grashalms auf einer Wiese, war die 
Erkundung des Stofflichen und Sinnlichen ihm sein All und Eines 
geworden. Nun hatte er seit Jahren das Menschenleben fast vergessen, 
und dass er einst auch gelacht und gezürnt, thöricht und klug, froh und 
traurig gewesen. Jetzt lachte er nur, wenn unter seinen chemischen Stoffen 
allerlei Komödien und unerwartete Entwicklungen spielten; jetzt wurde 
er nur verdrießlich, wenn er einen Rechnungsfehler machte, falsch 
beobachtete oder ein Glas zerbrach; jetzt fühlte er sich nur klug und 
froh, wenn er bei seiner Arbeit das große Schauspiel mit genoss, welches 
den unendlichen Reichthum der Erscheinungen unaufhaltfam anf eine 
einfachste Einheit zurückzuführen scheint, wo es heißt, im Anfang war 
die Kraft, oder so was. 
Die moralischen Dinge, pflegte er zu sagen, flattern ohnehin gegen— 
wärtig wie ein entfärbter und heruntergekommener Schmetterling in der 
Luft; aber der Faden, an dem sie flattern, ist gut angebunden, und sie 
werden uns nicht entwischen, wenn sie auch immerfort die größte Lnst 
bezeigen, sich unsichtbar zu machen. 
Jetzt aber war es ihm, wie gesagt, unbehaglich zu Muth geworden; 
in der Besorgnis um seine Augen stellte er sich alle die guten Dinge 
oor, welche man mittelst derselben sehen könne, und unvermerkt mischte
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.