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Deutsche Geschichte bis zur Gründung des nationalen Staats 919.
Mytho¬
logie.
mütig herabsah und die Tage in trägem Nichtstun/) in Trunk und Spiel
zu verbringen liebte; ein einfaches und derbes Volk, dessen sinnige Gemüts¬
tiefe sich z. B. in seiner Auffassung der Ehe, in der Verehrung der Frau,
in der Mannentreue, in dem Sinn für das Symbolische spiegelt, keusch und
unverdorben, von unerschöpflicher Kraft?)
Die Ideale des Volkes spiegeln sich in seiner Mythologie: einer
Mythologie des Kampfes, in der die Äsen, die lichten, freundlichen Götter,
mit den Riesen, den Personifikationen wilder, zerstörender Naturgewalten,
in fortwährendem Streit liegen und die höchsten Gottheiten, ursprünglich
die Verkörperungen von Naturerscheinungen, zu Kampfgöttern geworden
sind. So wurde der Himmelsgott Z i u (Zeus), auch Saxnot genannt, den
vorzugsweise die Herminonen verehrten, zum Kriegsgott, der durch
Schwerttänze verehrt wurde. Der Gewittergott Donar (nord. Thor),
der vom Donnerwagen herab den Hammer schleudert, war der eifrigste
Bekämpfer der Riesen; später, als die Germanen sich zu einem Bauern¬
volk umwandelten, ward er mehr und mehr zum Beschützer der Saaten
und des Ackerbaus. Wodan (nord. Odhin), der allmählich zur Stellung
des höchsten Gottes emporstieg, war ursprünglich der Gott der Lüfte und
des Sturmes, der einäugige Wanderer im himmelblauen Mantel und
Wolkenhut. Auch er wird insofern ein Gott des Krieges und des Sieges,
als er von den Walkyren die gefallenen Helden zu sich herauftragen läßt
und sie in Walhall um sich sammelt; zugleich aber ist Wodan der runen¬
kundige 3) Gott aller geistigen Tätigkeit, der Erfindungen, der Dichtkunst,
der Heilkunst. Als eine Erdgöttin bezeichnet Tacitus N e r t h u s, von
deren Jnselheiligtum und jährlichem, segenspendendem Umzug er erzählt.
Genauer sind wir über die Mythologie der Nordgermanen
unterrichtet; diese liegt uns in der E d d a vor, deren Lieder nicht vor dem
neunten Jahrhundert entstanden sind. Da erscheint als Odhins Gemahlin
Frigg oder F r i j a, die fürsorgende Erdmutter und Göttin der Ehe.
Mit ihr ist Freyja verwandt, die Göttin des Liebreizes; deren Bruder
ist F r e y r oder F r o , der auf goldborstigem Eber über die Ahrenfelder
reitet. Odhins jugendschöner Sohn ist B a l d e r, ein leuchtender Sonnen¬
gott, den sein blinder Bruder Hödur auf Lokis Anstiften mit dem Mistel¬
zweig erlegt. L o k i ist der heimtückische, hinterlistige Gott der Zerstörung,
1) Mira diversitate naturae, cum iidem homines sic ament inertiam et
oderint quietem.
2) Nemo illic vitia ridet nec corrumpere et corrumpi saeculum vocatur. —
Plus ibi boni mores valent quam alibi bonae leges.
3) Die Runenschrift, der man Zauberwirkung zuschrieb, ist aus dem lateinischen
Alphabet abgeleitet.