Der Orient.
Im 4. Jahrtausend v. Chr., bis wohin unsere Forschung vor-
zudringen vermag, haben die ältesten Kulturvölker schon eine
lange Entwickelung hinter sich: sie sind vom Nomadenleben
schon längst zur Seßhaftigkeit übergegangen und haben Staaten
und Reiche gegründet. Im Verlaufe der Jahrhunderte sehen wir
nun zahlreiche Staaten entstehen und nach oft überraschend
kurzem Bestände wieder vergehen. Das erklärt sich aus der
stetigen Wiederholung desselben Vorganges: die Nomadenvölker
der Steppe dringen gegen das Kulturland an, das sich eine zeit¬
lang ihrer erwehrt; aber bei der gewaltigen räumlichen Aus¬
dehnung dieser Staaten, den wenig entwickelten Verkehrsmitteln,
der Selbständigkeit der Statthalter und Vasallen ist eine Zu¬
sammenfassung der Kräfte unmöglich; der Kulturstaat erliegt den
Nomaden, die die Erben seiner Kultur werden, ein neues Reich
gründen und nach einiger Zeit dasselbe Schicksal erleiden, das
sie ihren Vorgängern bereitet haben.
I. Die semitisch-ägyptische Zeit.
Den semitischen Völkern sind als gemeinsame Cha¬
rakterzüge Nüchternheit des Denkens und ein berechnender,
auf das Praktische gerichteter Verstand eigen, der die Gebilde
der Phantasie durchaus beherrscht. Diese Nüchternheit zeigt auch
die Religion. Sie verehren in der Natur wirkende freundliche
und feindliche Dämonen; jeder Stamm verehrt in seinem Gott
seinen Herrn (Baal, Bel) oder seine Herrin (Baalat, Belit), denen
zu dienen er verpflichtet ist; ein ethisches oder mystisches Ver¬
hältnis der Menschen zu ihnen ist jedoch unbekannt. Der Kultus
war nicht selten blutdürstig (der Melqart in Tyros), derjenige der
Göttinnen (Astarte u. ähnl.) auch unzüchtig.