Wesen des römischen Geistes.
105
Die bisherige Ausführung hatte den Zweck, gegenüber einem verbreiteten
Vorurteil, welches den Grund der Vorzüglichkeit des römischen Rechts aus¬
schließlich in die intellektuelle Begabung der Römer verlegt, die Bedeutung
des moralischen Elements für diese Frage einmal mit allem Nachdruck zu
betonen. Ich darf aber, nachdem ich nach beiden Seiten hin: der intellektuellen
wie moralischen die günstige Prädisposition des römischen Volkes für die Kultur
des Rechts nachgewiesen zu haben glaube, nicht unterlassen, schließlich noch
eines Umstandes zu gedenken, der einen höchst förderlichen Einfluß ausgeübt
hat. Er ist zwar äußerlicher, aber nicht bloß zufälliger Art. Ich meine die
Eoncentration des römischen Lebens auf die Stadt Rom. Von welchem Einfluß
dieser Umstand auf die Entwickelung des Rechts gewesen ist, liegt so offen zu
Tage, daß jedes Wort darüber ein verlorenes wäre; man braucht nur den
Fall zu setzen, der ja später bei uns in Deutschland eintrat und die Ent¬
wickelung unseres einheimischen Rechts so außerordentlich beeinträchtigt hat,
daß Rom statt eines Centralpunktes für das Recht und die Jurisprudenz
deren eine ganze Anzahl besessen Hütte, um den Einfluß, den Rom jenem
Vorzug verdankt, vollkommen zu würdigen. Aber ich glaube, jene Concen-
tration für Rom ebensowenig als eine bloß geographische Thatsache auffassen
zu sollen, als wir Deutschen unsere einstige politische Zersplitterung lediglich
unter diesem Gesichtspunkte betrachten dürfen, sondern ich erblicke in ihr eine
That des römischen Geistes, die Bethätigung einer Eigenschaft, die ich nicht
verschweigen darf, wenn meine Charakteristik desselben vollständig sein soll.
Ich meine die centralisierende Kraft desselben. Nicht die lokale Cen¬
tralisierung des gesamten nationalen Lebens: des politischen, der Religion, des
Rechts, der Kultur aus die Stadt Rom ist es, was mich zur Annahme
dieser Eigenschaft bestimmt, sondern ich meine, daß sich dieselbe in unver¬
kennbarster Weise auch im Recht und seinen Begriffen ausprägt; es wird
mir im Verlaus meines Werkes nicht an Gelegenheit fehlen, dies an manchen
Beispielen nachzuweisen.