7. April
1860.
§. 1022. Kirchliches. 685
evangelischen Kirchenwesens die Herrschaft einer ultramontanen Priestermacht und eines
von ihr geleiteten Ministeriums; am Rhein, wo mehrere im gothischen Stil restaurirte
Burgen Zeugniß ablegen von dieser romantisch-ritterlichen Liebhaberei, suchte man den
Ausbau des Kölner Doms statt zu einem Symbol deutscher Einheit und Kraft zum
Sieq und zur Verherrlichung der katholischen Kirche zu benutzen. Aber die offene Be¬
günstigung der Processionen, der Wallfahrten und des ganzen auf Erhaltung und For-
derunq des Aberglaubens berechneten äußerlichen Kirchenwesens stand zu sehr mit dem
Jeitqeiste in Widerspruch, als daß das künstliche Gewebe der Priesterschaft ganz gelun¬
gen wäre- und seit der Verwerfung des Concordates in Baden. dem der Fall des 160U
tembergifchen auf dem Fuß folgte, scheint eine Wendung auch in dieser Richtung immer
unausweichlicher zu werden, zumal da auch das von Oesterreich m übler Stunde abge- 18. Aug.
schlossene Concordat, das wahre Gegenstück zu der josephinischen Gesetzgebung, dem
Kaiserstaat nur eine Kette von Verlegenheiten eingetragen, und neben den seither den
protestantischen Kirchen verwiegten Rechten viel von seiner ursprünglichen Bedeutung
verloren hat.
§ 1022. Der Deutschkatholicismus. Als der rheinische Klerus zur Nach-
feier des preußischen Kirchenstreits durch die Anordnung einer Wallfahrt nach dem u n - -6 Dct
aenähten heiligen Rock in Trier die Gläubigkeit des Volks auf eme bedenkliche i844.
Probe stellte, geriethen viele aufgeklärte Katholiken in einen Zwiespalt mit dem Kirchen-
qlauben. Der Jubel über diese Gottesfahrt, an der sich über eme Million Pil¬
ger betheiliat hatten, wurde gestört durch ein Schreiben aus Laurahütte „gegen das
Götzenfest zu Trier an den dasigen Bischof als den Tetzel des neunzehnten Jahr-
Hunderts" Das offene Schreiben kam von Johannes Ron ge, einem jungen, tat^,oliciimu8
wegen Ungehorsams von der kirchlichen Behörde suspendirten Priester aus Schlesien,
also aus einer Gegend, wo schon früher eine freisinnige Partei, den gelehrten Th einer
an der Spitze, gegen den römischen Kirchendruck angekämpft hatte. Dem Briefe folgten
Flugschriften, die zur Gründung einer katholischen Nationalkirche aufforderten
und bei der Aufregung der Gemüther ihres Eindrucks nicht verfehlten. Bald sammelte
sich um Ronge in Breslau eine Anzahl freidenkender Katholiken, die eine von Rom und
der bischöflichen Gerichtsbarkeit unabhängige Kirchengemeinde bildeten, nach dem ähn¬
lichen Vorgänge in dem preußisch-polnischen Städtchen Schneidemühl, wo der junge
Vicar Job. Czerski, weil er ein polnisches Mädchen heirathen wollte, sich von der
römischen Kirche und mehreren ihrer Lehrsatzungen losgesagt und, ohne sern Prlesteramt
auszugeben, mit einigen gleichgesinnten Gemeindegliedern eine christlich-apostolisch-katyo-
lische Gemeinde gegründet hatte. Nach dem Vorbilde von Breslau bildeten sich mit
Kurzem in vielen Städten des nördlichen, später auch des südlichen Deutschlands
deutsch-katholische Gemeinden, die, mit Ronge durch Zustimmungsadressen ver¬
bunden, in der Aufstellung eines höchst einfachen und nüchternen Glaubensbekenntnisses
und in der Forderung des freien Schriftgebrauchs und der Kirchengewalt für die Ge¬
meinde einig waren. Die von Breslau ausgehende rationalistische Richtung entsprach dem
demokratischen Zeitgeiste und fand unter den mit ihrer Kirche zerfallenen Katholiken mehr
Anklang, als Das Glaubensbekenntniß der von Czerski ausgegangenen christ-katho¬
lischen Gemeinde, die nicht nur an den Grundzügen altkirchlicher Orthodoxie, sondern
auch an einigen römischen Satzungen festhielt. So trat mit dem Entstehen auch die Spal¬
tung ein, die durch das um Ostern 1845 in Leipzig veranstaltete, von fünfzehn Gemein¬
den beschickte Concil nicht gehoben ward. Das hier entworfene Glaubensbekenntniß ent¬
hielt außer der unbedingten Lossagung von der päpstlichen Hierarchie und der freien,
vernunftgemäßen Auslegung der heiligen Schrift nur das verstümmelte apostolische Be¬
kenntniß und hob die „Bethätigung des Glaubens durch Werke der Liebe hervor.
Czerski hielt an dem unverkürzten apostolischen Symbol mit dem ausgesprochenen Glau¬
ben an die Gottheit Christi fest; dagegen wurde Ronge's DeutschkathoUcismus an einigen
Orten verstärkt durch den Beitritt einzelner mit der Staatskirche zerfallener protestan¬
tischen „Lichtfreunde". — Die Regierungen zeigten sich den Deutschkatholiken abhold. In
Bayern und Oesterreich wurden die katholischen „Dissidenten" durch Verbote und