Politische Ereignisse in der zweiten Hälfte der Regierungszeit Friedrichs d. Gr. 69
Tatenen Staaten. Anlaß zum Hader gab die Einmischung Rußlands in die
polnischen Wirren und der dadurch entstandene russisch-türkische Krieg
(1768 — 1774). In Polen, welches nach dem Aussterben der Jagellonen
{1572) Wahlreich geworden war, hatte der Adel allen Grundbesitz und
alle Macht in Händen. Die Bürger, meistens deutsche Einwanderer, be-
saßen keine politische Bedeutung; die Bauern waren Leibeigene ohne Rechte
und Güter. Zum Fluche für das Land aber wurde das im Jahre 1652
eingeführte schrankenlose Einspruchsrecht, das liberum veto der Landboten
gegen jeden Beschluß eines polnischen Reichstags. In der Zeit von 1652
bis 1764 wurden nicht weniger als 48 Reichstage gesprengt. Die poli-
tischen Parteien bildeten Konföderationen und Gegenkonföderationen, die
sich mit den Waffen bekämpften und zum Verderben für ihr Vaterland
die Hülfe des Auslandes anriefen. Schon unter August III., besonders
während des Siebenjährigen Krieges, behandelten die Russen das polnische
Gebiet mit schonungsloser Willkür. Nach seinem Tode verhinderte Ka-
tharina II. jegliche Verfassungsänderung und sorderte für die sog. Dissi-
d enten in Polen, die Nichtkatholiken, Gleichberechtigung, obgleich in Ru߬
land sowenig wie in anderen Staaten der Zeit volle religiöse Toleranz
herrschte. Als der Reichstag diese Forderung ablehnte, verbanden sich die
gegen Rußland gefügigen Elemente zur Konföderation von Radom (1767),
welcher auch der zum König erhobene Stanislaus Poniatowski, Ka-^iatowski
tharinas Günstling, beitreten mußte. Ihre von Rußland unterstützten i?64.
Truppen warfen den Aufstand der patriotischen Gegenkonföderation von
Bar (1768) mit Gewalt nieder unb verletzten bei der Verfolgung der
Flüchtigen . türkisches Gebiet. Dadurch entstand ein Krieg zwischen der
Türkei und Rußland, welches seine Hand nach dem Besitz der Donau-
Fürstentümer ausstreckte und so gleichsam in den Machtbereich der öfter-
reichischen Politik eingriff. Friedrich beschwor die drohende Gefahr eines
Krieges zwischen Rußland und Österreich durch seinen Vorschlag einer
Teilung Polens, auf welche die gewissenhafte Maria Theresia nur mit
Widerstreben einging. Während Rußland, ohne sich weiter um die Dissi- 1772^
denten zu kümmern, fast ganz Weißrußland östlich von der Düna und
des Dnjepr in Besitz nahm, Österreich außer dem einst zu Ungarn ge-
hörigen Zips die Königreiche Galizien und Lodomirien sich aneignete, er-
warb Preußen das ehemals deutsche Ordensland Westprenßen außer
Danzig und Thorn (s. S. 40), dazu das Ermeland und den Netzedistrikt,
und stellte dadurch die Verbindung seiner Kurländer mit dem Gebiet des
Königtums her. Seitdem nannte Friedrich II. sich König von Preußen.
Rußland schritt langsam, aber sicher in seiner Ausdehuungspolitik im
Süden auf Kosten des türkischen Reiches vor, und Österreich ließ sich
eine Zeitlang zu seinem großen Schaden in das Schlepptau der russischen
Politik nehmen.