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entfiel und ein junger Höfling es ihr aufnahm. Anna hatte näm¬
lich einen höchst munteren, heitern, Sinn, so daß sie sich bei allem,
was sie tat, nichts Arges dachte; dabei war sie so weit entfernt
von Hochmut, daß sie mit allen die sonst ihres Gleichen gewesen
waren, ebenso freundlich und zutraulich wie ehedem umging. Von
bei an wurde jede freundliche Miene, jedes milde Wort, jede gut-
tätige Handlung der Armen als Verbrechen gedeutet, und ohne
Verhör wurde sie plötzlich ergriffen und in den Tower geführt.
Als sie bas Gefängnis betrat, fiel sie auf ihre Knie nieber, rief
Gott zum Zeugen ihrer Unschuld an unb bat ihn, sie so gewiß
selig zu machen, als sie unschulbig sei. Hier zeigte sich wieber,
wie an Höfen nur bem Glücklichen bie allgemeine Gunst sich zu-
wenbet. Kaum war Anna in Ungnabe gefallen, als alle ihre bis¬
herigen Verehrer unb Freunde ihr ben Rücken zuwanbten, unb nur
ein einziger fanb sich, ber es wagte, für sie beim Könige zn
sprechen.
Aus bem Tower schrieb sie an ben König einen rührenben
Brief, um ihn zu tnilberen Gesinnungen zu bewegen. Aber alles
war vergebens. Heinrich wollte sie los sein, barurn mußte sie schulbig
fein. Doch obgleich ihre erbittertsten Feinbe ihre Richter waren,
so konnte ihr boch kein Verbrechen bewiesen werben. Einem ber
Hofleute, bie ber Freunblichkeit wegen, mit welcher Anna mit ihnen
sollte gesprochen haben, auch gefangen gefetzt waren unb hingerichtet
werben sollten, bot man bas Leben an, wenn er bie Königin an¬
klagen wollte. „Behüte ber Himmel!" ries er aus, „ich hatte sie
für unschulbig unb wollte lieber taufenb Leben verlieren, als einen
unschnlbigen Menschen üerleuinben." Dennoch sprachen bie Richter
ihr „Schulbig" aus. Sie sollte, nach ber Entscheibnng bes Königs,
entweber verbrannt ober enthauptet werben. Als man ihr bas
Urteil anfünbigte, erschrak sie nicht, aber sie hob ihre weißen Hänbe
gen Himmel unb rief: „0 Vater, ber bu ber Weg, bie Wahrheit
unb bas Leben bist, bu weißt, baß ich biesen Tob nicht tierbient
habe." Daun ließ sie bem Könige sagen, sie banse ihm sehr, daß
er so eifrig stuf ihre Erhebung bebacht fei. Aus einem bloßen
Fräulein höbe er sie zur Marquisin, bann zur Königin erhoben,