§ 55. Das Zeitalter der Revolution. Allgemeine Übersicht. 91
unter den Nachbarn erworben hatte. Es schmeichelte der Eitelkeit der
Franzosen, daß ihr Königtum das Vorbild für die anderen Staaten ge-
worden war und ihre Sprache und Mode in Europa herrschten. Nachdem
jedoch schon in den letzten Regiernngsjahren Ludwigs XIV., besonders
unter den Leiden des Spanischen Erbfolgekrieges, und unter der Regentschaft
des Herzogs von Orleans (vgl. § 19) das Königtum viel von seinen
früheren Sympathien bei der Bevölkerung eingebüßt hatte, verschuldete
es Ludwig XV. durch sein sittenloses Leben, durch die Willkürherrschaft
an seinem Hofe, die unglückliche Beteiligung am Siebenjährigen Kriege,
die Frankreich seines Kolonialbesitzes in Nordamerika beraubte (§ 52), und
die ungeheure Vermehrung der Nationalschulden, daß das Königtum in
der Achtung der Untertanen immer tiefer sank.
Noch Voltaire (gest. 1778) war ein Anhänger der Monarchie gewesen, ®0ltaiIC-
so heftig er viele ihrer Mißstände bekämpft hatte. Er war ein Gegner
aller Vorrechte der Geburt und erklärte die Priester für die Feinde der
Monarchie, aber er erwartete alles Heil von einer vernünftigen Regierung.
Auch Montesquieu (gest. 1755) war kein Gegner der Monarchie, wohl Pontes-
aber des Absolutismus. Im »Esprit des lois« stellte er den Lehrsatz auf,
in einem gut geordneten Gemeinwesen dürften die drei Gewalten, die
gesetzgebende, ausführende und richterliche, nicht in einer Hand liegen,
sondern müßten voneinander getrennt sein. Er begründete damit die Lehre
vom konstitutionellen Staate. Zur Republik bekannten sich erst Rousseau.
Jean Jacques Rousseau (geb. 1712 in Genf, gest. 1778) sowie Diderot bi?<Sio.
und die Enzyklopädisten. Misten.
Rousseau geht in seinen Schriften von der Behauptung aus, daß der
Mensch von Natur gut sei, aber durch die Kultur verdorben werde, und
fordert daher die Rückkehr zur Natur. Ist der Mensch von Natur gut, so
braucht er nur von den Schranken, die ihn beengen, frei zu werden, um seine
natürliche Anlage zur Güte und brüderlichen Gesinnung zu betätigen; er muß
frei feilt, um feine volle Menschenwürde zu erlangen. — Während Rousseau
in seinem »Emile« (1762) die Jdealgestalt des Bürgers zeichnete und als
leidenschaftlicher Gegner der Monarchie auftrat, entwarf er im »Contrat
social«, der in demselben Jahre erschien, die Grundzüge der Staatsverfassung
und lehrte daselbst, der Mensch gebe seine Freiheit nicht auf, auch wenn er
sich einem Staate unterwerfe. Naturgemäß erschien ihm die absolute Monarchie,
in der der Untertan zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet ist, am wenigsten
dazu geeignet, den Menschen zu dem zu machen, der er von Natur sein soll.
Die Freiheit, die er hierzu braucht, kann ihm nur die Republik, in der das
Volk sich selbst regiert, verbürgen. Sie entspricht auch am besten dem wahren
Wesen des Staates. Denn dieser ist hervorgegangen aus dem freien Ent¬
schluß der Bürger, einen Staat zu gründen, er beruht auf dem Vertrage,
den sie miteinander geschloffen haben; ist er aber durch Vertrag geschaffen, fo
kann er auch durch Kündigung des Vertrages wieder aufgehoben werden. Alle
Staatsgewalt stammt alfo vom Volke, wird von ihm übertragen und kann
von ihm genommen werden — nur das Volk ist souverän. Wann und
wo freilich in dex geschichtlichen Wirklichkeit ein solcher Vertrag geschlossen
wurde und die Übertragung der Staatsgewalt an ein Oberhaupt statt-