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scheu am nützlichsten wäre? Die Kuh sprach: Von mir hat er die
süße Milch, den wohlschmeckenden Käse und die Butter, welche ihm
das Oel ersetzt. Das Pferd sprach: Ich bin das Segel der Wagen
und der Fittig des Reiters. Das Schaf: Ich gehe nackt und bloß,
damit er gekleidet sei. Da kam der Hund zu ihnen. Den blickten
sie verächtlich von der Seite an als ein unnützes, mit ihnen nicht zu
vergleichendes Thier. Aber der Herr, welcher dem Hunde folgte,
rief ihn freundlich zu sich, streichelte und liebkoste ihn. Da das die
andern Thiere sahen, murrten sie, und das Pferd faßte sich ein
Herz und fragte: Warum thust du also, Gebieter? Sind wir deiner
Aufmerksamkeit nicht würdiger, als dieses unnütze Thier? Aber der
Herr streichelte seinen Hund noch freundlicher und sprach: „Dieser
hat, treu und kühn, mein geliebtes Söhnlein gerettet aus rauschen¬
den Wasserfluthen; sollte ich nun sein vergessen können?"
Z o l l i k o f e r.
35. Die zwei Sperlinge.
In einem trockenen Mißjahre quälte der Hunger zwei Sperlinge
sehr; beide fühlten sich schon dem Verschmachten nahe. — „Sammle
noch einmal deine Kräfte, lieber Bruder," sprach der Schwächste von
ihnen, „fleuch umher und sieh', ob du nicht irgendwo einige Nah¬
rung entdeckest! Ich flöge gern mit, aber ich kann nicht mehr. Fin¬
dest du Speise, so bring auch mir Etwas davon! Aber nur bald;
denn sonst hat der Hunger mich umgebracht." — Der Stärkere ver¬
sprach es und flog aus. Das Glück war ihm günstig. Er sah einen
Kirschbaum voll reifer Früchte. — „O," rief er, „geborgen ist nun
mein Freund und ich!" — Er flog hinzu, kostete, fand die Kirschen
vortrefflich unb stillte seinen Hunger bis zum Uebermaß. Eine Stunde
verfließt; die Sonne senkte sich zum Untergange. Er will jetzt, mit
einigen Kirschen beladen, zu seinem Freunde fliegen. — Doch nein!
nein! denkt er wieder, noch bin ich selbst zu matt; noch will ich diese
Kirsche verzehren und dann jene! — So fährt er fort; so flattert er
von Ast zu Ast, bis die Dunkelheit ihn überrascht und er einschläft.
Erst am Morgen erwacht er wieder und eilt nun wirklich zu seinem
verlassenen Bruder. Er findet ihn — aus dem Rücken liegend — todt.
Nichts sei dir heiliger, als die Erfüllung deines Versprechens,
zumal wenn es dem Nothleidenden gegeben ist. Der Edle vergißt
nn eignen Glück das Unglück seiner Brüder nicht.
Meißner.
36. Der Wolf und das Lamm.
Ein Wolf und ein Lamm kamen an den nämlichen Bach, um zu
trinken. Oben an der Quelle stand der Wolf, viel weiter unten das
Lamm. Da aber den Wolf nach dem Fleische des Lammes gelüstete,
so suchte er eine Veranlassung, an dasselbe zu kominen. Darum hub
er an, dem Lamm Vorwürfe zu machen. „Warum," sprach er,
„machst du mir das Wasser, das ich trinken will, trübe?" Ganz
bescheiden erwiderte das Lamm: „Gnädiger Herr, wie kann ich Ihnen
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