Contents: Lesebuch in Lebensbildern für Schulen (3)

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scheu am nützlichsten wäre? Die Kuh sprach: Von mir hat er die 
süße Milch, den wohlschmeckenden Käse und die Butter, welche ihm 
das Oel ersetzt. Das Pferd sprach: Ich bin das Segel der Wagen 
und der Fittig des Reiters. Das Schaf: Ich gehe nackt und bloß, 
damit er gekleidet sei. Da kam der Hund zu ihnen. Den blickten 
sie verächtlich von der Seite an als ein unnützes, mit ihnen nicht zu 
vergleichendes Thier. Aber der Herr, welcher dem Hunde folgte, 
rief ihn freundlich zu sich, streichelte und liebkoste ihn. Da das die 
andern Thiere sahen, murrten sie, und das Pferd faßte sich ein 
Herz und fragte: Warum thust du also, Gebieter? Sind wir deiner 
Aufmerksamkeit nicht würdiger, als dieses unnütze Thier? Aber der 
Herr streichelte seinen Hund noch freundlicher und sprach: „Dieser 
hat, treu und kühn, mein geliebtes Söhnlein gerettet aus rauschen¬ 
den Wasserfluthen; sollte ich nun sein vergessen können?" 
Z o l l i k o f e r. 
35. Die zwei Sperlinge. 
In einem trockenen Mißjahre quälte der Hunger zwei Sperlinge 
sehr; beide fühlten sich schon dem Verschmachten nahe. — „Sammle 
noch einmal deine Kräfte, lieber Bruder," sprach der Schwächste von 
ihnen, „fleuch umher und sieh', ob du nicht irgendwo einige Nah¬ 
rung entdeckest! Ich flöge gern mit, aber ich kann nicht mehr. Fin¬ 
dest du Speise, so bring auch mir Etwas davon! Aber nur bald; 
denn sonst hat der Hunger mich umgebracht." — Der Stärkere ver¬ 
sprach es und flog aus. Das Glück war ihm günstig. Er sah einen 
Kirschbaum voll reifer Früchte. — „O," rief er, „geborgen ist nun 
mein Freund und ich!" — Er flog hinzu, kostete, fand die Kirschen 
vortrefflich unb stillte seinen Hunger bis zum Uebermaß. Eine Stunde 
verfließt; die Sonne senkte sich zum Untergange. Er will jetzt, mit 
einigen Kirschen beladen, zu seinem Freunde fliegen. — Doch nein! 
nein! denkt er wieder, noch bin ich selbst zu matt; noch will ich diese 
Kirsche verzehren und dann jene! — So fährt er fort; so flattert er 
von Ast zu Ast, bis die Dunkelheit ihn überrascht und er einschläft. 
Erst am Morgen erwacht er wieder und eilt nun wirklich zu seinem 
verlassenen Bruder. Er findet ihn — aus dem Rücken liegend — todt. 
Nichts sei dir heiliger, als die Erfüllung deines Versprechens, 
zumal wenn es dem Nothleidenden gegeben ist. Der Edle vergißt 
nn eignen Glück das Unglück seiner Brüder nicht. 
Meißner. 
36. Der Wolf und das Lamm. 
Ein Wolf und ein Lamm kamen an den nämlichen Bach, um zu 
trinken. Oben an der Quelle stand der Wolf, viel weiter unten das 
Lamm. Da aber den Wolf nach dem Fleische des Lammes gelüstete, 
so suchte er eine Veranlassung, an dasselbe zu kominen. Darum hub 
er an, dem Lamm Vorwürfe zu machen. „Warum," sprach er, 
„machst du mir das Wasser, das ich trinken will, trübe?" Ganz 
bescheiden erwiderte das Lamm: „Gnädiger Herr, wie kann ich Ihnen 
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