■90 Sekunda. I. Geschichtliche Darstellungen und Kulturbilder.
zur Folge hatte, die für alle Freunde des Vaterlandes eine Zeit
der schwersten Prüfung war, so daß König Wilhelm,'s als er seine
landesväterlichen Absichten verkannt sah, im Begriffe stand, die Krone
niederzulegen. -
In diese Krisis ist Moltke wie ein rettender Genius eingetreten;
denn der zähe Widerstand beruhte ja vorzugsweise darauf, daß man
nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte an eine ernsthafte Ver¬
wertung der Reform nicht glaubte. Ta war er es, der in ver¬
ständnisvollem Anschluß an Bismarcks große Politik das von Roon
geschliffene Schwert als Chef des großen Generalstabes so zu führen
wußte, daß die geschmähte Reorganisation sich als die größte Wohltat
bewährte lind als solche sofort von den Parteien anerkannt wurde. Das
war ein Sieg seltenster Art, der dem Könige sein Volk und dem Lande
den Frieden zurückgegeben, dem Staat aber den Weg zu einer neuen
Weltstellung gebahnt hat. Einen größeren Teinst hat niemand seinem
Vaterlande leisten können.
Moltkes geistige Bedeutung wurde in der Armee voll gewürdigt.
Er erkannte bald, daß man ihn vorzugsweise im Generalstabe ver¬
wenden wolle, und war um so mehr darauf bedacht, seinem angeborenen
Wissensdurste folgend, alles zu tun, um seinen Gesichtskreis zu er¬
weitern und sich so früh wie möglich eine umfassende Kenntnis fremder
Länder, Völker und Sprachen anzueignen. 1835 nahm er Urlaub zu
einer Rundreise nach Konstantinopel, Athen und Neapel.
In der Türkei war durch den blutigen Sturz der Janitscharcn
mit der Tradition gebrochen, der die Ssmanen ihre Siege dankten.
Man mußte nach neuen Machtstützen suchen, und der Seraskier glaubte
in dem jungen Hauptmann mit seinem hellen Blick und ruhigen Ernst
den Mann zu erkennen, der zu einer Neuordnung des Heeres und der
Landesverteidigung die Hand bieten könne.
Molkte war sich der Merkwürdigkeit dessen, was er täglich erlebte,
voll bewußt und versäumte nicht, jede einsame Mußestunde zu Aus¬
zeichnungen zu benutzen, aber nicht, um größere Leserkreise zu unter¬
halten, sondern in Briefen an die nächsten Angehörigen. Daher der
schlichte Ausdruck und der volle Zauber des Unmittelbaren, der lebens¬
vollsten Wahrheit! Seine Berichte sind der natürlichste Niederschlag
einer geistig und körperlich angestrengten Tätigkeit, belebt von allen
Gedanken und Erinnerungen, die ihn aus der Jugendzeit begleiten.
Wo er ans dem Boden der klassischen Geschichte weilt, sind ihm die
Geister der Vorzeit nahe, Hektar und Achill, Cvrus, Alexander,