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Staatliche Ueformen. Im Staate suchte Joseph die absolute Ver¬
waltung durch Ausschluß der ständischen Rechte zu vollenden und die Ein-
heit des Staates gegenüber den nationalen Besonderheiten zu fördern;
die niederen Klassen sollten durch Beseitigung der Vorrechte der ersten
Stände gehoben und der Geist der Humanität durch gemeinnützige An-
"stalten l) gepflegt werden.
Da außer dem Kirchenwesen in wenigen Jahren die militärischen Ein-
richtungen, die Gerichtsordnung und Polizei, die Besteuerung, alle städtischen
And ländlichen Verhältnisse von Grund aus umgestaltet wurden, so geriet die
Bevölkerung in eine furchtbare Erregung; am stärksten war diese in den
Niederlanden und in Ungarn. Die Niederlande wurden insbesondere
durch die Beseitigung der ständischen Rechte, die sich hier kräftig erhalten
hatten, erbittert; 1789 waren sie in vollem Aufstande, und im nächsten
Jahre schien hier die Herrschaft des Hauses Österreich vernichtet.
Ungarn verletzte Joseph am Anfange seiner Regierung schon dadurch,
daß er sich hier weder huldigen noch krönen ließ; die Überführung der ungarischen
Krone2) und der ungarischen Reichsinsignien nach Wien, die Einführung der
deutschen Sprache als Amtssprache und die Aufhebung der Leibeigenschaft
brachte eine mächtige Bewegung hervor; vollends die Abschaffung der Kreis-
Versammlungen des Adels, seine gleiche Besteuerung mit dem Bauer, die
Einführung der Konskription (eines stehenden Heeres) schien die Knechtschaft
Ungarns zu besiegeln. Stürmisch verlangte man die Berufung des Reichstages;
gedrängt durch den belgischen Aufruhr und den Türkenkrieg (vgl. S. 60)
bewilligte Joseph 1790 die Herstellung der alten Zustände; auch die Krone
und die Reichskleinodien wurden nach Ungarn zurückgeführt.
Joseph II. verkannte die Macht des geschichtlich Gewordenen
und überschätzte die Kraft eines einzelnen Herrschers; was in Österreich in Jahr-
Hunderten versäumt worden war, sollte nun in wenigen Jahren nachgeholt werden
und plötzlich aus dem Leibeigenen ein freier Bauer, aus dem feudalen Grund-
Herrn ein Unterthan werden und an Stelle des Glaubensdruckes Glaubens-
duldung treten. Der Kaiser bezweckte die freiheitliche Entwicklung des
Ganzen und mißachtete doch das Recht individueller Freiheit sowohl bei den
Nationen als bei den Einzelnen. Der aufgeklärte Absolutismus (Despo¬
tismus), dem er huldigte, verlangte vor allem ein pflichttreues und selbstloses
Beamtentum; dies ließ sich indes in der kurzen Frist eines Jahrzehnts um
so weniger schaffen, als die Reformen einander überstürzten und, kaum gegeben,
oft schon wieder geändert oder aufgehoben wurden. Daher haben die redlichsten
Absichten ihr Ziel verfehlt; der Gram über das Mißlingen seiner Pläne be-
förderte Josephs Tod (+ 1790). Sein ihm im Kaisertum wie im öfter-
reichischen Staate folgender besonnener Bruder Leopold II. (1700—1702)
wußte durch Zurücknahme der meisten Neuerungen in den österreichischen Landen,
besonders auch in Ungarn, die Ruhe wiederherzustellen; die Niederlande
1) wie Kranken- und Irrenhäuser, Findel- und Walsenanstalten, ärztliche Stif¬
tungen u. a.
2) In der Wiener Schatzkammmer ließ Joseph sie gleichsam als geschichtliche Altertümer
neben der böhmischen Krone und dem österreichischen Herzogshute aufbewahren.