§116
Die Verfassung des Deutschen 9teiche§.
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mit dem Reichstage berufen; doch kann er auch außerdem allein berufen
werden, wenn es die Vorbereitung der gesetzgeberischen Aufgaben erfordert.
Er muß berufen werden, wenn es ein Drittel der Bundesstimmen verlangt.
Er beschließt über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von
jenem gefaßten Beschlüsse, ferner über die zur Ausführung der Reichsgesetze
erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen. Die
von ihm genehmigten Vorlagen werden vor den Reichstag gebracht und dort
durch Mitglieder des Bundesrates oder besondere Kommissare vertreten, die
jederzeit gehört werden müssen. Wenn Bundesmitglieder ihre verfassungs-
mäßigen Bundespfüchten nicht erfüllen, so können sie im Wege der Exekution
dazu angehalten werden. Diese Exekution (militärische Besetzung des be¬
treffenden Landes) ist vom Bundesrate zu beschließen und vom Kaiser zu
vollstrecken.
Der Reichstag geht aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen Der Reich?
mit geheimer Abstimmung hervor. Die Zahl der Abgeordneten beträgt 397. ta9'
Wahlberechtigt ist jeder Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Wahlrecht.
Das Wahlrecht ruht jedoch für die bei der Fahne befindlichen Personen des
Soldatenstandes mit Ausnahme der Militärbeamten. Ausgeschlossen von der
Wahl sind Personen, die entmündigt, zahlungsunfähig oder nicht im Besitze
der staatsbürgerlichen Rechte sind oder öffentliche Armenunterstützung beziehen.
Wählbar ist jeder wahlberechtigte Deutsche, der mindestens seit einem Jahre Wählbarkeit,
einem Bundesstaate angehört, auch Personen des aktiven Soldatenstandes.
Jeder Abgeordnete wird in einem besonderen Wahlkreise auf Grund der auf¬
zustellenden Wählerlisten gewählt. Die Wahlhandlung ist öffentlich; das Wahlhand-
Wahlrecht wird im ganzen Reiche an demselben Tage durch verdeckte Stimm- ,wnfl'
zettel unter besonderen Vorsichtsmaßregeln gegen Wahlbeeinfluffung ausgeübt.
Gewählt ist derjenige, der die absolute Mehrheit, d. h. mehr als die Hälfte
aller in einem Wahlkreise abgegebenen Stimmen erhalten hat. Wenn sich
diese Stimmenmehrheit nicht herausstellt, so entscheidet eine neue Wahl zwischen
den beiden Bewerbern, die im ersten Wahlgange die meisten Stimmen er¬
halten haben (Stichwahl).
Die Verhandlungen des Reichstages sind öffentlich. Der Reichstag hat Reichstags-
das Recht, innerhalb der Befugnis des Reiches Gesetze vorzuschlagen und an "ungen.'
ihn gerichtete Bittschriften dem Bundesrate oder dem Reichskanzler zur Er-
ledigung zu überweisen. Die Legislaturperiode dauert fünf Jahre. Zur
Auflösung des Reichstages vor Ablauf dieser Zeit ist ein Beschluß des Bundes¬
rates unter Zustimmung des Kaisers erforderlich. Für die Neuwahlen gelten
dieselben Bestimmungen wie beim preußischen Abgeordnetenhause (vgl. § 95),
das auch für die Geschäftsordnung und sonstige Einrichtung des Reichstages
vielfach vorbildlich gewesen ist. Der Reichstag prüft die Wahlen seiner Mit¬
glieder und entscheidet über ihre Gültigkeit. Er regelt seinen Geschäftsgang
selbst durch eine Geschäftsordnung und wählt seinen Präsidenten, feine (2)
Vizepräsidenten und (8) Schriftführer. Die Beschlüsse erfolgen durch Stimmen-
mehrheit. Zur Gültigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehr¬
heit der gesetzlichen Mitglieder erforderlich.
Die Reichstagsabgeordneten sind Vertreter des gesamten Volkes und an Rechte der
Aufträge ihrer Wähler nicht gebunden. Sie dürfen wegen ihrer Abstimmung
und wegen ihrer Äußerungen im Reichstage in keiner Weife zur Verant¬
wortung gezogen, auch während der Sitzungsperiode ohne Genehmigung des