Full text: Die wichtigsten Begebenheiten der Neuzeit, insbesondere der preußisch-deutschen Geschichte seit 1648 (Teil 6)

§116 
Die Verfassung des Deutschen 9teiche§. 
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mit dem Reichstage berufen; doch kann er auch außerdem allein berufen 
werden, wenn es die Vorbereitung der gesetzgeberischen Aufgaben erfordert. 
Er muß berufen werden, wenn es ein Drittel der Bundesstimmen verlangt. 
Er beschließt über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von 
jenem gefaßten Beschlüsse, ferner über die zur Ausführung der Reichsgesetze 
erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen. Die 
von ihm genehmigten Vorlagen werden vor den Reichstag gebracht und dort 
durch Mitglieder des Bundesrates oder besondere Kommissare vertreten, die 
jederzeit gehört werden müssen. Wenn Bundesmitglieder ihre verfassungs- 
mäßigen Bundespfüchten nicht erfüllen, so können sie im Wege der Exekution 
dazu angehalten werden. Diese Exekution (militärische Besetzung des be¬ 
treffenden Landes) ist vom Bundesrate zu beschließen und vom Kaiser zu 
vollstrecken. 
Der Reichstag geht aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen Der Reich? 
mit geheimer Abstimmung hervor. Die Zahl der Abgeordneten beträgt 397. ta9' 
Wahlberechtigt ist jeder Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Wahlrecht. 
Das Wahlrecht ruht jedoch für die bei der Fahne befindlichen Personen des 
Soldatenstandes mit Ausnahme der Militärbeamten. Ausgeschlossen von der 
Wahl sind Personen, die entmündigt, zahlungsunfähig oder nicht im Besitze 
der staatsbürgerlichen Rechte sind oder öffentliche Armenunterstützung beziehen. 
Wählbar ist jeder wahlberechtigte Deutsche, der mindestens seit einem Jahre Wählbarkeit, 
einem Bundesstaate angehört, auch Personen des aktiven Soldatenstandes. 
Jeder Abgeordnete wird in einem besonderen Wahlkreise auf Grund der auf¬ 
zustellenden Wählerlisten gewählt. Die Wahlhandlung ist öffentlich; das Wahlhand- 
Wahlrecht wird im ganzen Reiche an demselben Tage durch verdeckte Stimm- ,wnfl' 
zettel unter besonderen Vorsichtsmaßregeln gegen Wahlbeeinfluffung ausgeübt. 
Gewählt ist derjenige, der die absolute Mehrheit, d. h. mehr als die Hälfte 
aller in einem Wahlkreise abgegebenen Stimmen erhalten hat. Wenn sich 
diese Stimmenmehrheit nicht herausstellt, so entscheidet eine neue Wahl zwischen 
den beiden Bewerbern, die im ersten Wahlgange die meisten Stimmen er¬ 
halten haben (Stichwahl). 
Die Verhandlungen des Reichstages sind öffentlich. Der Reichstag hat Reichstags- 
das Recht, innerhalb der Befugnis des Reiches Gesetze vorzuschlagen und an "ungen.' 
ihn gerichtete Bittschriften dem Bundesrate oder dem Reichskanzler zur Er- 
ledigung zu überweisen. Die Legislaturperiode dauert fünf Jahre. Zur 
Auflösung des Reichstages vor Ablauf dieser Zeit ist ein Beschluß des Bundes¬ 
rates unter Zustimmung des Kaisers erforderlich. Für die Neuwahlen gelten 
dieselben Bestimmungen wie beim preußischen Abgeordnetenhause (vgl. § 95), 
das auch für die Geschäftsordnung und sonstige Einrichtung des Reichstages 
vielfach vorbildlich gewesen ist. Der Reichstag prüft die Wahlen seiner Mit¬ 
glieder und entscheidet über ihre Gültigkeit. Er regelt seinen Geschäftsgang 
selbst durch eine Geschäftsordnung und wählt seinen Präsidenten, feine (2) 
Vizepräsidenten und (8) Schriftführer. Die Beschlüsse erfolgen durch Stimmen- 
mehrheit. Zur Gültigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehr¬ 
heit der gesetzlichen Mitglieder erforderlich. 
Die Reichstagsabgeordneten sind Vertreter des gesamten Volkes und an Rechte der 
Aufträge ihrer Wähler nicht gebunden. Sie dürfen wegen ihrer Abstimmung 
und wegen ihrer Äußerungen im Reichstage in keiner Weife zur Verant¬ 
wortung gezogen, auch während der Sitzungsperiode ohne Genehmigung des
	        
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