Full text: Thüringisches Lesebuch für die oberen Klassen der Volksschulen

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ander gleich, vom ersten im Paradies, bis zum letzten im 
Frühling 1873. Keiner hat's vom andern gelernt. Jeder 
kann's selber. Die Mutter legt ihre Kunst schon in das Ei. 
Eben so alle Spinnengewebe, ein jedes nach seiner Art, eben 
so jede Puppe des Raupengeschlechts in seiner Art. Man 
weiß es wohl, aber man denkt nicht daran. 
Noch ein Wort mehr. Das erste Nest eines Finken 
ist schon so künstlich wie sein letztes. Er lernt's nie besser. 
Ja manches Thierlein braucht sein Gespinnst nur einmal in 
seinem Leben und hat nicht viel Zeit dazu. Es wäre übel 
daran, wenn es zuerst eine ungeschickte Arbeit machen müßte 
und denken wollte: Für dieses Jahr ist's gut genug, über's 
Jahr mach' ich's besser. 
Noch ein Wort mehr. Jedes Vogelnest ist ganz voll¬ 
kommen und ohne Tadel. Nicht zu groß und nicht zu klein, 
nicht zu wenig daran und nicht zu viel, dauerhaft für den 
Zweck, wozu es da ist. In der ganzen Natur ist keine 
Lehrlingsarbeil, lauter Meisterstücke. 
Aber der Mensch, was er zur Geschicklichkeit bringen 
soll, das muß er mit vieler Zeit und Mühe lernen, und bis 
er's kann, bekommt er manche Ohrfeige von dem Meister, 
der selber keiner ist. Denn kein menschliches Werk ist voll¬ 
kommen. Hat der geneigte Leser noch nie eine Uhr gekauft, 
und wenn er meinte, jetzt geht sie am besten, so blieb sie 
stehen, oder ein Paar Stiefeln, einmal sind sie zu eng, ein 
andermal zu weit, oder in den ersten acht Tagen wird ein 
Absatz rebellisch und will desertiren? 
Was sagt der geneigte Leser dazu? Also ist ein Mensch 
noch weniger als ein Fink? — Nichts nutz. — 
Denn erstlich, nicht der Vogel baut sein Nest, und 
nicht das Würmlein bettet sein Schlafbett, sondern der 
ewige Schöpfer thut es durch seine unbegreifliche Allmacht 
und Weisheit, und der Vogel muß nur das Schnäblein 
und die Füßlein und, so zu sagen, den Namen dazu her¬ 
geben. Deßwegen kann auch jeder Vogel nur einerlei Nest 
bauen, wie jeder Baum nur einerlei Blüthen und Früchte 
bringt. Deßwegen kann auch der Mensch kein Vogelnest 
und keine Spinnengewebe nachmachen. Gottes Werke macht 
Niemand nach. 
Zweitens, wie der ewige Schöpfer an seinem Ort 
jedem genannten Geschöpf seine Wohnung bereitet, aber 
nicht alle auf gleiche Art, dem einen so, dem andern anders, 
wie es nach seinem Zwecke und Bedürfniß recht ist, also 
hat er dem Menschen etwas von seinem göttlichen Ver-
	        
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